Kinder erleben den Krieg

Nirgends spürt man so unvermittelt wie im Kinder- und Jugendbuch die Sehnsucht nach Frieden. Schlaglichter auf neue und ältere Kinder- und Jugendliteratur zum Thema Krieg. Sichtweisen von Erwachsenen und Kindern.  ■ Von Gabi Trinkaus

Schon fast fünfzig Jahre hält der Frieden in Zentraleuropa. Aber in unmittelbarer Nachbarschaft, im ehemaligen Jugoslawien, zählen die Menschen die Kriegsjahre. Es gibt auch 1994 Kinder, die müssen ihre Kindheit mit dem Krieg teilen. Den Verantwortlichen ist das Schicksal dieser Kinder gleichgültig, und so ist das Motiv für Kinderkriegsliteratur denn auch klar: Schreiben Kinder, so ist es ein Aufschrei der Machtlosigkeit und Angst. Schreiben Erwachsene, so sind es Erinnerungen, die niemals vergessen werden können. Nirgends spürt man so unvermittelt wie im Kinder- und Jugendbuch die Sehnsucht nach Frieden.

Melancholische Bilder

Aus Frankreich kommt ein Bilderbuch. Es ist meines Wissens das erste Kriegsbilderbuch überhaupt. Gemacht hat es Elzbieta, ehemals polnisches Kriegskind. Sie lebt heute in Paris und arbeitet für Unesco und Unicef, ist also kompetent. Trotzdem muß man die Frage stellen: Warum braucht ein kleines Kind ein Bilderbuch über den Krieg? Und warum wird so ein Bilderbuch in das Kleid einer Häschenfabel gesteckt? Sind niedliche Häschensoldaten nicht ein Widerspruch in sich?

Die Geschichte ist anfangs einfach. Doch als es gilt, zu erklären, was Krieg ist, muß sie versagen. Egal welchen Vergleich man wählt, kleine Kinder können es nicht verstehen.

Floris und Maja, zwei Häschenkinder, die sich gern haben, werden eines Tages durch Stacheldraht getrennt. Das hat der Krieg gemacht. Dann wird der Häschenvater Soldat, und alle winken traurig zum Abschied. Wir schauen durch das Fenster der Häschenstube und sehen Floris aufbegehren: Der Krieg soll gehen. Doch der Krieg ist stark, macht, was er will, stirbt nie, schläft nur manchmal, und man darf nicht so laut sein, sonst wird er wach. Aber Kinder können ihn nicht wecken. Sie sind noch zu jung.

Das klingt nach erwachsener Hilflosigkeit und wird von Kindern einer zweiten Klasse auch so verstanden. „Der Krieg kommt vom Krach? Das kann ja wohl nicht stimmen!“

Was stimmt, sind die Bilder. Sanfte Erdfarben unterstreichen die Verletzbarkeit der Häschen. Das geht unter die Haut in seiner Traurigkeit, macht den Text überflüssig. Kriegskinder verstehen die Bilder auch so, und das erzählte Wort spendet mehr Trost als ein vorgelesenes.

Elzbieta: „Floris & Maja“. Aus dem Französischen von Barbara Haupt. Moritz Verlag 1994, 36 Seiten, 18DM

Zlatas Tagebuch

Ganz konkret vom Krieg in Bosnien handelt das Kriegstagebuch der 1980 geborenen Zlata Filipovic: „Ich bin ein Mädchen aus Sarajevo“. Sie beschreibt, wie das Unglaubliche passiert. Der Krieg kommt in ihre Stadt. Was anfangs aussieht wie ein Irrtum der „Jungs da oben“, wie sie die Politiker nennt, entpuppt sich als deren Spiel ohne Ende, ohne Regeln, ohne Sinn. Nationalitätenhaß ist für Zlata kein Thema. Die „Jungs da oben“ haben Schuld. Warum nur haben sie solchen Spaß daran zu töten, zu zerstören? Für Zlata sind das Fragen ohne Antworten. Sie sitzt vor dem Scherbenhaufen ihrer Kindheit, mal verzweifelt, mal wütend, immer in Angst vor den Heckenschützen. Es geht nur noch ums Überleben, um Schule, Klavierspielen, Freunde, genug zum Essen, Brennholz, Strom oder Gas, Wasser, passende Kleidung. Das alles gibt es nur manchmal, nur kurz oder gar nicht.

Ich habe ihr Buch Schülerinnen der neunten und zehnten Klasse gegeben und bekam es genervt zurück. „Immer das gleiche. Keller, Granaten und gute Zensuren.“ Das Mädchen Zlata haben sie nicht kennengelernt. „Auch im Krieg hat man Zoff mit seinen Eltern oder ist verliebt oder streitet sich mit Freunden, Nachbarn.“ Zlata schweigt sich darüber aus. „Oder“, mutmaßt eine andere Schülerin, „das Tagebuch hat ein Erwachsener umgeschrieben, das ist überhaupt keine Kindersprache. Vielleicht dachte er, Zlata muß eine Art Engel sein, damit das Buch gefällt. Der hätte sich mal Anne Franks Tagebuch anschauen sollen. Die war kein Engel, die war ein wirklicher Mensch, auch ganz schön gemein manchmal. Das Buch kann ich immer wieder lesen. Zlatas Buch ist langweilig.“

So streng bin ich nicht. Besser als nach jedem Artikel oder Filmbericht kann ich mich jetzt einfühlen in den trostlosen Alltag einer Kriegskindheit in Sarajevo.

Zlata Filipovic: „Ich bin ein Mädchen aus Sarajevo“. Lübbe Verlag 1994, 192 Seiten, 28,80 DM

Die Wut der Kinder

Auch in der ehemaligen Sowjetunion wenden sich die Kinder ab von kriegstreibenden Politikern und deren Hetzparolen. Wut und Verzweifelung über die Friedensunfähigkeit der Erwachsenen läßt sie zur Feder greifen und Leserbriefe schreiben. Unter dem Titel „Roter Stern zerplatzt“ wurden sie zusammen mit fünfzehn Geschichten über Kinder und Jugendliche zur Zeit von Glasnost und Perestroika veröffentlicht. Doch stärker noch als diese Geschichten sind die Briefe.

Eines wird klar, von diesen Erwachsenen erwartet die neue Generation nichts mehr. So schreibt ein fünfzehnjähriges Mädchen an alle jungen Leute: „In fünf Jahren werden wir die treibende Kraft in der Gesellschaft sein. Laßt uns gemeinsam die Probleme lösen.“ Und an die Erwachsenen: „Wie könnt Ihr, deren Zeit abgelaufen ist, es wagen, daß Leben Eurer Kinder zu verderben. [...] Wir, die zukünftige Generation, werden unser Land ohne Grenzen wiedererrichten. Und wir wollen Frieden.“

Ein Vierzehnjähriger schreibt: „Leute, Ihr beklagt Euch über leere Geschäfte. Aber hat sich irgendeiner von Euch über die Leere in unseren Köpfen beklagt?“

Tanja droht: „Ihr wollt Euren Feinden schaden, aber in Wirklichkeit schadet Ihr uns. [...] Wenn wir aufwachsen zu grausamen Menschen, kann sich diese Grausamkeit auch gegen Euch wenden. [...] Hört auf mit dem Brudermord! Uns ist unheimlich.“

Die verliebte S. aus Kirgisien fordert: „Ich will nicht den kirgisischen Genbestand bewahren müssen. Ich will Olegs Frau werden. Drucken Sie meinen Brief! Russen! Geht nicht fort!“

Man darf gespannt sein, wie diese Jugendlichen als Erwachsene auf diese Welt blicken werden. Die Kinder des Zweiten Weltkriegs sind noch lange nicht fertig mit dem, was man ihnen angetan hat.

Fraenkel, Gorschenek (Hrsg.): „Roter Stern zerplatzt. Geschichten vom Umbruch der Sowjetunion“. Ravensburger Buchverlag Otto Maier 1993, 204 Seiten, 24,80DM

Kompromißlos traurig

Der schwedische Schriftsteller Peter Pohl beschreibt in seinem Jugendbuch „Der Regenbogen hat nur acht Farben“ das Drama einer, vielleicht seiner, Kriegskindheit.

Heinrich, wie der Autor 1940 in Berlin geboren, geht nach dem Soldatentod seines Vaters mit der schwedischen Mutter zurück ins neutrale Schweden zum Großvater. Doch für ein Nazikind gibt es keine Neutralität. Wenn ihn schwedische Kinder voller Spott mit „Heil Hitler“ begrüßen, grüßt er zurück. So hat er es gelernt in Deutschland. „Immer Heil Hitler sagen, sonst kommen sie und holen uns ab“, hatte ihn die Mutter gewarnt. Doch in Schweden wird er dafür verprügelt. Für jedes deutsche Wort gibt es einen Schlag auf den Kopf. „Sprich schwedisch, dreckige Nazisau!“ So wird der Frieden für ihn die größere Hölle. Weder die Mutter noch der Großvater kann ihm da helfen. Die Mutter, vor dem Krieg eine bekannte Malerin, ist mit sich und ihrer Kunst beschäftigt. Der Großvater, alt und krank, erzählt Märchen, Balsam für Heinrichs Seele. Doch im Krieg auf der Straße ist er allein gegen alle. Und Heinrich weiß auch, warum. Immer wenn er einen Menschen gern hat, muß der sterben. Das war mit Papa so und mit seinen Freunden drüben in Deutschland. Mama darf er nicht so gerne haben, damit sie überlebt. Opa wird bald sterben, das hat er schon angekündigt. Und als er endlich einen schwedischen Freund gefunden hat, wird dieser vom Lastwagen überfahren. Heinrich, der sich jetzt Henrik nennt und kein Wort Deutsch mehr redet, flüchtet sich in die Welt der Bücher. Wider Willen bekommt er einen Schulfreund. Doch auch dieser Freund stirbt, plötzlich und unerwartet, wie die anderen.

Henrik gibt auf, wird Außenseiter, auf dem Schulhof zum Verprügeln freigegeben.

Es ist ein wunderbar geschriebenes Buch, kompromißlos traurig und in seiner Konsequenz kaum aushaltbar. Vierzehnjährige Schüler, die ich nach der Lektüre befragte, waren zutiefst erschrocken. „Ich mein'“, sagte ein Mädchen, „wenn er das selbst erlebt hat, also, ich würde lieber sterben wollen, als so ein Leben auszuhalten. Und wenn er es erfunden hat, dann versteh' ich nicht, wozu. Weniger Unglück wäre schon schlimm genug gewesen. Dieser Schluß ist gar keiner. Es hört einfach auf, mitten in der Katastrophe. Das finde ich nicht richtig. Man muß dann dauernd daran denken und findet das Buch immer schrecklicher. Ich glaube, es ist gar kein Jugendbuch.“

Peter Pohl: „Der Regenbogen hat nur acht Farben“. Aus dem Schwedischen von Birgitta Kicherer. Hanser 1993, 288 Seiten, 29,80 DM

Auf der Flucht

Diesen Vorwurf kann man Willi Fährmann für seine Bienmann- Saga nicht machen. Das dritte Buch, „Das Jahr der Wölfe“, schildert die Flucht der Familie aus Ostpreußen im Winter 1944/45. Der Krieg ist verloren. Die Russen kommen, und die Menschen verlassen mit Pferdefuhrwerken die Dörfer. Auch hier geht es um Leben und Tod. So mancher Mensch wird angesichts der Bedrohung zum reißenden Wolf, andere wachsen an den Umständen. Der zwölfjährige Konrad, Ältester von vier Geschwistern, weiß, daß er den Vater ersetzen muß, falls dem etwas zustößt. Doch die Familie schafft es, unversehrt beisammenzubleiben, und macht sich auf die Suche nach einer neuen Heimat. Die Zeitzeugen von damals gehören heute zur Großelterngeneration, und so mancher hätte seinen Enkeln da noch eine Geschichte zu erzählen.

Willi Fährmann: „Das Jahr der Wölfe“. Arena-Taschenbuch 1994, 192 Seiten, 8,90 DM

Wallenstein

Ich glaube, in den Siebzigern erfand jemand den genialen Spruch „Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin“. „Die Jungs da oben“ müßten ihre eigene Haut zu Markte tragen. Das wäre das Ende aller Kriegsgeschichte. Doch der Zerfall Jugoslawiens zeigt, wie schnell aus Männern Soldaten und aus Frauen und Kindern Opfer werden. Gerade weil Kinder das aktuelle Geschehen nicht begreifen, kann der weite Blick zurück fehlende Klarheit bringen.

„Verrat“ nennt Inge Ott ihr Buch über Wallenstein und den Dreißigjährigen Krieg. An Verrat gibt es keinen Mangel, weder an persönlichem, der Feindschaft stiftet, noch an politischem, der im Krieg gipfelt. Doch der Krieg, das zeigt dieses Buch deutlich, ist der größte Verrat. Die Völker werden benutzt und geopfert für Machtinteressen weniger. Vergeblich müht sich der kleine Jan von der Kate um ein bißchen Glück in seinem Leben. Der Krieg nimmt ihm die Eltern. Für sein Idol Wallenstein verläßt er Frau und Kind und muß sie viele Kriegsjahre lang suchen. Während es Wallenstein versteht, den Krieg für eine einzigartige Feldherrenkarriere zu nutzen. Im Ringen um Macht und Reichtum gehen Kaiser, Könige, Fürsten, Herzöge über Leichen. Die Völker verhungern und verbluten. Kriegsgewinnler wie Wallenstein gibt es in jedem Krieg, aber nicht immer bringt der eine Gewinner den anderen um.

Inge Ott: „Verrat! Feinde und Freunde um Wallenstein“. Verlag Freies Geistesleben 1993, 278 Seiten, 32 DM

Alles nur Geschichte

Den Dreißigjährigen Krieg aus der Sicht der Bevölkerung von Eggebusch im Oktober 1641 schildert Tilman Röhrig in seinem Buch „In dreihundert Jahren vielleicht“. So weit voraus denkt Jockel, um seine sterbende Freundin zu trösten. In dreihundert Jahren vielleicht wird es keine Soldaten mehr geben. Keine Soldaten, das muß Frieden sein.

„Lagerten Soldaten am Fluß, Schweden, Brandenburger, Italiener, kaiserliche – die Anderen oder die Unseren –, sie alle plünderten und mordeten, zerrissen die Orte und Menschen mit großen Bissen wie Wölfe.“

Von Eggebusch ist nicht viel übriggeblieben. Nur der Friedhof ist gewachsen. In den zerfallenen Hütten der Toten verstecken sich die letzten Überlebenden vor den hungrigen Soldaten, die auf der Suche nach Eßbarem foltern und morden, bis es Eggebusch nicht mehr gibt. Das war 1641, aber es könnte auch Jugoslawien sein, 1994. Verstohlen wischten sich die Jungen einer achten Klasse, denen das Buch von ihrem Lehrer im Unterricht vorgelesen worden war, die Tränen ab, und es war ungewöhnlich still. „Ich bin so froh, daß ich jetzt lebe“, seufzte einer, und hoffentlich ist er das in fünfzig Jahren auch noch.

Tilman Röhrig: „In dreihundert Jahren vielleicht“. Arena Verlag 1984, 148 Seiten, 16,80 DM