Sturm im Zahnputzbecher

Polemisches zum Streit um David Hughes Bilderbuch „Macker“, das am 10. November mit dem Deutschen Kinder- und Jugendbuchpreis in der Sparte Bilderbuch ausgezeichnet wurde.  ■ Von Jochanan Shelliem

„Was ist bloß mit der Jury los?“ Samy Wiltschek protestiert. Doch daß dem Buchhändler gänzlich unprofessionell die Zornesader schwillt, daß er die „Jurymenschen“, die den diesjährigen Deutschen Kinder- und Jugendbuchpreis in der Disziplin Bilderbuch an das Machwerk „Macker“ von David Hughes verliehen haben, in seinem obersten Standesorgan, dem Börsenblatt, radebrechend verflucht, würde wohl außerhalb von Ulm, fern seiner Käuferschafe in Ulm und um die Ulmer Bücherstube herum, wohl kaum einen Menschen interessieren. Doch ein Tabu ist aufgebrochen, ein Ritual gerät ins Stottern. Pädagogen, Sozilogen und Erzieher, die einst ausgezogen waren, das Gute im wilden Kinde auszugraben, als wären sie Bilderbuchchinesen, die an der dicken Runkelrübe ziehen, als wäre die Revolution ein einzig Ex und Hopp, zeigen sich verstört. Die Preisverleihung schreckt verhärmte Kindergärtner und Buchhändlerinnen aus ihren Biedermeierträumen. Auf nationaler Ebene der Verbandsorgane tobt der Sturm im Zahnputzglas. Buchhändler, Kindergärtnerinnen und real frustrierte Zivildienstleistende, allein oder derzeit noch paarweise Erziehungsberechtigte lassen den Jogitee erkalten und echauffieren sich in der Debatte um einen fast vergessenen Konsumartikel aus fast versunkener Zeit – dem Kinderbilderbuch.

Was ist geschehen? Pünktlich wie der Kleiderwechsel der Schokoladenosterhasen zur Vorweihnachtszeit, und darum ebenso pflichtbewußt wie gähnend auf Bestellzetteln im Sortiment erfaßt, verleihen vor dem Volkstrauertage edle Menschen edlen Büchern für solche, die edle Menschen werden sollen, einen Preis. Nicht einen, sondern Deutschlands einzige nationale Literaturtrophäe. Heuer ging der deutsche Oscar in der Sparte Jugendbuch beispielsweise an eine dicke Mogelpackung namens „Sophies Welt“, obwohl von den 600.000 bis heute verkauften Exemplaren kaum ein Zehntel von Kindern und Jugendlichen verschlungen worden ist. Vor allem vom Zeitgeist verwirrte Eltern und ErzieherInnen holen sich bei der dicken Sophie Rat, doch das ist eine andere unendliche Geschichte, die da zu anderer Zeit ...

Für ihre Übersetzungen aus dem Hebräischen wurde die in München ansässige Geschichtenerzählerin Miriam Pressler prämiert, und andere Disziplinen der Deutschen Kinder- und Jugendliteratur wurden auch bedacht. Als Bilderbuch auch „Macker“ von David Hughes.

Dabei dreht sich der schräge Comicstrip – verlegt beim kampflustigen kleinen Alibaba-Verlag – doch nur um das, was wir im Alltag nur allzu gerne übersehen. Zwist, Streit, Intrigen und Gewalt, das was jedes Büro, jede Schulklasse, die U-Bahn und jeden Spielplatz zur Folterkammer machen kann und täglich tut. Mit krudem Krakelstrich, mit klaren Bildern, die wie die Comiczeichnungen eines wütenden Legasthenikers aussehen, hat der – wie könnt' es anders sein – englische Grafiker, Bühnenausstatter und Designer David Hughes, der dieser Tage vierzig wird, in drei Jahren und einem Tag die wenig anziehende Visage von Gewalt unter Kindern aufs Glanzpapier geworfen. „Es war ein herrlicher Tag“, hebt der Text an. „Alle spielten. Simon spielte mit Yunus.

Gloria spielte mit Nesrin und Marco. Heiko spielte mit Paola.“ Ein Teddybär, ein Krokodil mit Zöpfen, ein Pinguin, ein Schwein in Jeans, ein Enkel von Barbar, dem Elefanten, also ein Elefant im Rock, spielen bevor die Prügelei ausbricht, die auch die Zeichnungen zerfetzt.

„Komm Simon“, rief Pascal. „Wir machen Marco fertig.“ „Auf der ersten Ebene dreht es sich um Kinder in einem Park, auf einem Spielplatz“, sagt David Hughes. „Das ist ganz offensichtlich. Warum wird einer denn zum Haßobjekt? Seiner Eigenheiten wegen, seiner großen Nase oder der roten Haare wegen. Vielleicht, weil Kinder es nicht besser wissen. Sie haben Angst vor ihrer eigenen Unsicherheit, und Erwachsene, die schlagen, verhalten sich nicht anders.“

Hughes Bilder kommentieren nicht. Mit den Fußtritten geht auch die Sprache in diesem Bilderbuch zu Bruch. Die Bilder provozieren. Die Farbe weicht aus den Figuren. Nur schmerzhaft werden die Gesichter der Verletzten rot. Als alle alle treten, klemmt wie ein Konstruktionspapier die gelbe Bleistiftskizze akkurat viergeteilt verkantet knapp über Paolas Kopf. Paola lächelt böse, und Paola ist das Krokodil mit Zöpfen, das eine Doppelseite später seine Kameraden fressen wird. „Schnapp, schmatz, schluck, mjamm“ –, das hat den Pädagogen nicht gefallen, denn damit war der Zeigefinger ab. Auch wenn die deutsche Ausgabe der englischen Fassung gegenüber weichgespült worden ist, wie David Hughes feststellen mußte. „In der Originalversion haben die Charaktere keine Namen. Sie heißen Hund, Schwein oder Krokodil, nicht Gloria und Pascal. Sie bleiben anonym. In seiner Weisheit hat der Alibaba-Verlag ihren Namen verpaßt. Ich war verblüfft. Doch der Verleger wollte auf diese Weise den Verallgemeinerungen aus dem Wege gehen. Der Hund, das Schwein. Die Handlung wirkt so weicher.“

Nichtsdestotrotz lecken sich professionelle Kinderheger, die das Bilderbuch an freilaufenden Kleingruppen von halslosen Monstern testen ließen, nach traurigen Testergebnissen, ihre Wunden. Wo bleibt „das pädagogische Moment“? Deswegen wütet der Buchhändler Samy Wiltschek gegen die Jury und „kann's nicht fassen, wer nun falsch liegt“. Leider weigert sich auch der in Frankfurt am Main ansässige deutsche Lizenz-Verlag von „Macker“ den verwirrten Käufern und Verkäufern in Ulm und um die Ulmer Bücherstube herum, eine Gebrauchsanweisung als Präventiv-Errata nachzuliefern. So wird wohl ewig unbegreiflich bleiben, warum Kinder mitten in einer Schlägerei ganz einfach sagen können, „komm, wir spielen was anderes“ – und dann was anderes spielen. Da wundert sich der Balkankämpfer, da streikt der Pädagoge. „Na bitte!“ Geht doch. „Was für ein toller Tag.“

Vielleicht ist dieses Bilderbuch versehentlich wirklich nicht für wohlmeinende Erwachsene gedacht. Ich jedenfalls, ich quietsche vor Vergnügen über dieses gewaltige Versehen der Jury, und ich freue mich, daß David Hughes zwei Tage vor dem Volkstrauertag den Preis in Händen hält. Denn ein anständiges Verhältnis zur Gewalt, das fehlt dieser Nation.

David Hughes: „Macker“. Deutsch von Abraham Teuter. Alibaba-Verlag 1993, 32 S., 28 DM