■ Die FDP auf der Westentbindungsstation
: Noch hält Kohl den Daumen drauf

Mit der Wiederwahl Helmut Kohls geht es nicht endlich an die Arbeit der Regierung, sondern an die Fortsetzung des Wahlkampfs. Schließlich muß der Koalitionspartner bei der Hessen-Wahl im Februar von der Intensivstation geholt werden. Aber auch eine vorübergehende Rekonvaleszenz wird nichts daran ändern können, daß in der Ära Kohl der parteipolitische Liberalismus klassischer Prägung in der Bundesrepublik erledigt wurde. Dies allein der Pfälzer Dampfwalze anzulasten wäre jedoch nicht ganz gerecht, auch wenn der Kanzler erst jüngst die FDP zu seiner faltigen Ehefrau verballhornte, an der ihm „nichts fremd“ sei. Wer es freilich mit seinen eigenen Frauen so hält wie die FDP im Falle der Ministerin Schwaetzer oder auf der Bundesversammlung mit Hildegard Hamm-Brücher, der dürfte auch an Kohls obszöner Arroganz nichts Anstößiges finden.

So gilt für die Agonie der FDP deren neoliberales Prinzip der Selbstverantwortung. Dies um so mehr, als ihr biederer Schwabe an der Spitze nur noch zum Politschwager der Kohlschen Rekordkanzlerschaft taugt. Was Wunder, daß es derzeit im konservativen Umfeld von prominenten Ratgebern nur so wimmelt, die programmatische Sozialpläne für die FDP erstellen! Da empfiehlt Alfred Grosser den Liberalen einen Post-Genscherismus, das heißt eine außenpolitische Profilierungsoffensive, während Erwin K. Scheuch unverdrossen zu gesteigerter marktwirtschaftlicher Unbedenklichkeit rät und man sich bei der Friedrich- Naumann-Stiftung einen „adjektivlosen“ Liberalismus wünscht, der sich nicht mehr als spezifischer Adressat einer marktorientierten Klientel, sondern als Repräsentant einer allerorten anzutreffenden Grundstimmung versteht.

Nachdem Herbert Kremp in der Welt noch vor einem Jahr seine Hoffnung auf eine neue rechtsliberale Partei entlang der anti-europäischen Brunner-Kampagne nährte („Bei der Europawahl wird sich zeigen...“), wittert er nunmehr in einem moderaten Populismus des mediengewandten Möllemann Hilfreiches und trifft sich dabei mit Günter Rohrmoser, der – laut Spiegel – dem geschaßten NRW-Chef sogar die Rolle eines bundesdeutschen Haider zutrauen soll.

Natürlich ist es ungerecht, dem unbeholfenen Hechinger Konservativen alle Schuld am freidemokratischen Niedergang aufzubürden. Selbst wenn der FDP-Chef nibelungentreu auf einem CDU-Parteitag als Grußredner erschiene, wäre dies kein Kinkel-Original, sondern nur eine Bangemann-Kopie (1985!). Kinkel übernahm einen intellektuell verwüsteten Deregulierungsklub von seinem Vorgänger Lambsdorff, dessen innere Liberalität jüngst nicht einmal mehr die physische Präsenz im Plenum während der Rede des unerwünschten Alterspräsidenten Heym zuließ.

Als in der Weizsäcker-Ära das „liberale Wächteramt“ vom Thomas-Dehler-Haus in die Villa Hammerschmidt umsiedelte, mußte man der FDP weniger den Verlust einer sozialliberalen Koalitionsneigung als den nahezu kompletten Verrat an republikanischen Perspektiven vorhalten. Gerhart Baum sollte mit seiner Prognose vom Berliner Wende-Parteitag im November 1982 Recht behalten: daß die FDP an der Seite der Union auf Dauer zur Blockpartei verkomme – im Stile der Deutschen Union Seebohms in den fünfziger Jahren. Die Blockpartei FDP im Stile Kinkels in den neunziger Jahren wird weder an der Seite des konservativen Zentristen Kohl noch auf dem linksliberalen Felde geläuterter Bündnisgrüner etwas zu bestellen haben.

Insofern macht das krude Berliner Papier einiger FDP-Rechter mehr liberalen Überlebenssinn, als es das heillose Stammtischgerede über „Ökohysterie“, „feministische Apartheid“, die politische Union Europas oder einzuschränkende Individualrechte zunächst nahelegen mag. Tatsache ist, daß hierzulande eine tiefsitzende Euro-Skepsis schlummert, die bislang durch den Pfälzer Dinosaurier an ihrer Entfaltung gehindert worden ist. Mit imponierender Zähigkeit hat Kohl im Superwahljahr rechts von sich alles weggebissen, Schönhuber wie Brunner, die StattPartei und jene Widerstände aus den Reihen der CSU, die ihren regionalistischen Bedeutungsverlust bei der Neuvereinigung im Schlepptau eines Europa der Vaterländer zu kompensieren sucht.

Für die Gründung einer rechtsliberalen Partei über den unbedarften Spandauer Versuch hinaus spricht aber auch das Vorhandensein einer relativ gehobenen Rechtsintellektualität, die ihr adäquates parteipolitisches Pendant noch nicht gefunden hat und im „sozialpatriotischen“ Populismus des Plebejers Schönhuber keinen Ansprechpartner erkennen konnte. Von den Großmachtdenkern Hans-Peter Schwarz, Arnulf Baring oder Wolf Jobst Siedler bis zu Rainer Zitelmanns ehrgeiziger Burschenschaft auf der Westentbindungsstation tut sich ein relativ unbearbeitetes Feld auf!

Die Reaktion in der FDP auf das Stahl-Papier war heuchlerisch:

– Sind denn Kinkels kolportierte Rüpelhaftigkeiten auf europäischem Parkett (die „Einbestellung“ des französischen Botschafters Scheer ins Außenministerium!) so weit vom Spandauer Spuk entfernt?

– Deckt sich das Herumschwadronieren des hessischen Hoffnungsträgers Wolfgang Gerhardt über eine „Vollkaskoversicherungs-Mentalität“ in unserer Gesellschaft nicht mit der Wolfsgesinnung und Begriffsschlampigkeit des Berliner Papiers?

– Ist das Denken in liberalen Kreisen nicht schon längst verbreitet, wegen der Organisierten Kriminalität universelle Bürgerrechte als Anachronismus abzutun und das klassische Feld der Rechts- und Innenpolitik zu planieren?

– Verrät nicht der zynische Umgang mit Irmgard Schwaetzer wie Hildegard Hamm-Brücher, daß die plumpe Frauenfeindlichkeit des Papiers längst der gelebten Praxis einer Partei entspricht, die Quotendebatten für linke Zeitverschwendung hält?

Die Kinkel-Partei ist geistig näher am Spandauer Manifest als am Freiburger Programm. Aber noch liegt Kohl wie eine amorphe Wabermasse auf dieser Republik und wird bis zur Abwicklung seiner maroden Kanzlerschaft noch manche Institutionen verrenken, ohne daß jene Liberalen dafür ein Sensorium hätten. Jenseits des Kanzlers jedoch scheint über das Aufbrechen des bislang verordneten Euro-Tabus im konservativen Lager noch manches möglich zu sein. Norbert Seitz

Redakteur der „Frankfurter Hefte“