Über die Wurzeln des Punk

■ Nordische Literaturtage: Vier Autoren an zwei Abenden

Der junge Mann aus dem Vorort Europas will so gar nicht in das Bild der Wortkünstler made in Germany passen. Es ist eher die Geste des „Cool“, die der Isländer Sjón unter seiner Sonnenbrille behauptet. „Punk hat mein Gehirn aktiviert“, sagt der 32jährige Rebell im Gespräch und zupfelt sich im Literaturhaus am Geißenbärtchen. „Und da ich nun einmal wach war, suchte ich nach den Wurzeln von Punk und landete bei Dadaismus, Surrealismus und den unartigen Burschen zwischen den Weltkriegen.“ Ähnlich wie Greil Marcus auf theoretischer Ebene versucht Sjón, mit ästhetischem Instrumentarium der Wirkungsweise von Gegenkulturen nachzuspüren.

Doch so recht zur Geltung kommen Sjóns groteske Sprachfiguren erst gekoppelt an ein Zeitgeschehen. In der bisher einzigen ins Deutsche übersetzten Kurzgeschichte beschreibt er die libidinöse Verehrung eines Achtjährigen für Gudrun Ensslin, die er wegen ihres nordischen Vornamens für eine Wikingerin hält. Bis zu ihrem bisher ungeklärten Tod in Stammheim „träumt er jede Nacht von den kleinen Brüsten der Ensslin“. Damit trifft Sjón die Haltung vieler „Twenty-Somethings“. Denn für die Kinder des Pop war die Baader-Meinhoff-Gruppe ebenso mythisch aufgeladene Popband wie politische Großstadt-Guerilla. Sjóns Entwicklung von der noch recht hermetischen Lyrik bis zu dieser Kurzgeschichte zeigt, daß an der Peripherie Europas eine ähnliche Sehweise wie die der jungen US-Amerikaner Coupland oder Bradfield keimt.

Ungewollt unterstrich Einar Heimisson, der zweite Autor an diesem Isländischen Donnerstag, noch die sperrige Ausnahmeerscheinung Sjóns. Dröge Journalistenprosa mit „blonden Mädchen vor blauem Meer“, noch dazu das vielbemühte Thema der Nazi-Verfolgung: Ist es Marktkalkül oder Frühvergreisung, die einen 22jährigen daran Interesse finden läßt?

Am nächsten Tag wurde für die renommiertere norwegische Literatur der Kindertisch verlassen und im großen Saal des Literaturhauses eine „entsprechend inspirierte Karte aufgelegt“. Man konnte etwa als „Potetkaker“ bezeichnete Kartoffelplinsen schmausen, bevor Roy Jacobsen und Kim Småge das Wort in den Mund nahmen.

Jacobsen parliert in seinem Roman Fata Morgana behäbig von den ideologischen Zweifeln der Alt-68er. Weniger an Wahrheit(en) denn an das pralle Leben hielt sich die blonde Bardin und Ex-Tauchlehrerin Kim Småge in ihren feministischen Krimis. Auch wenn Småge etwas zu sinnestrunken auftrug, hob sich ihre rotzige Verdichtung überforderter Wahrnehmung gekonnt von dem gedämpften Trott Jacobsens ab. Doch im ganzen zeigten die beiden Abende, daß es auch im hohen Norden am Kindertisch das bessere Essen gibt.

Volker Marquardt