■ Die „Schnupperstaatsangehörigkeit“ ist keine Lösung
: Häppchendeutsche

Es gibt zu viele Ausländer in Deutschland. Millionen Einwanderer, die seit über einem Jahrzehnt in der Bundesrepublik leben, also de facto Inländer sind, bleiben – durch rechtliche Diskriminierung und politischen Beschluß – Ausländer. Dadurch werden sieben Millionen Mitbürger immer wieder Haßobjekt einer ausländerfeindlichen Minderheit. Den Tatbeständen des Art. 3,3 GG, wonach niemand „wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen und politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden“ darf, müßte ein neuer hinzugefügt werden: Diskriminierung durch verweigerte Staatsangehörigkeit.

Die Koalitionsvereinbarung einer eingeschränkten und befristeten Staatszugehörigkeit für Angehörige der dritten Generation macht wieder nur einen kleinen, ängstlichen Schritt auf das europaübliche Staatsangehörigkeitsrecht zu, das Abstammung, Geburtsort und langfristigen Wohnsitz verbindet. Das in Deutschland stur verweigerte Jus soli besagt im Kern: Staatsbürger eines Landes ist, wer auf deutschem Boden geboren ist. Und Personen, deren fester Lebensmittelpunkt Deutschland ist, haben einen Anspruch auf Einbürgerung, der nicht in das Ermessen einer Behörde gestellt werden kann. Das gilt insbesondere für Kinder und Jugendliche, die im Lande aufwachsen.

Hingegen kann der Koalitionsvorschlag bei den Betroffenen weder Rechtssicherheit herstellen noch Vertrauen erwecken. Er gibt auch nicht das Signal an die Einheimischen, auf das man seit den fremdenfeindlichen Gewalttaten wartet. Die jetzt erfundene „Schnupperstaatsangehörigkeit“ ist eine politische Fehlgeburt.

Warum bewegt sich die christlich-liberale Koalition derart inkonsequent und häppchenweise auf ein neues Staatsangehörigkeitsrecht zu? Das eigene Dogma – die Ablehnung des Jus soli – hat sie längst durchbrochen. Eben noch war Staatsangehörigkeit ein überhohes, fast religiöses Gut, das man weder durch die Tolerierung von Mehrstaatlern noch durch die Gewährung des kommunalen Wahlrechts an Ausländern verunreinigen lassen wollte. Heute darf man dran „schnuppern“ wie an einem Parfüm-Pröbchen. Dabei haben Angehörige der dritten Generation längst einen Anspruch auf Einbürgerung. Jetzt kämen rund 10.000 bis 20.000 junge Ausländer in den Genuß eines neuen, aber ungewissen Rechts, das Behörden und Gerichte im Fall mangelnden Wohlverhaltens versagen und wieder abnehmen können, während es kontinentweit entfernt lebende Auslandsdeutsche auch nach Jahrhunderten nicht verlieren. Die Regierung und ihre falschen Berater konnten sich wieder nicht vom ethnischen zum republikanischen Prinzip der Staatsbürgerschaft durchringen.

Was aus dem Koalitions-Bazar herauskam, ist ein unsinniges Gesetz, das niemand versteht, unpraktikabel ist und letztlich mehr Staat schafft, im übrigen einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung kaum standhalten dürfte. Wie vereinbart sich zum Beispiel der grundgesetzlich verbürgte Schutz der Familie mit der Möglichkeit, Eltern (probeweise) eingebürgerter Kinder auszuweisen? Soll die Straftat eines Elternteils etwa die Versagung des Einbürgerungsanspruchs der Kinder nach sich ziehen? Einerseits ermöglicht das eine Art Sippenhaft, andererseits opfert die Bundesregierung das von ihr hochgehaltene Prinzip, in einer Familie möglichst nur eine Staatsangehörigkeit zu tolerieren. Hinzu kommt, daß die exquisite deutsche Rechtsschöpfung in kein europäisches Harmonisierungskonzept paßt.

Warum keine doppelte Staatsangehörigkeit? Es ist die Bundesregierung in ihrer sturen Verweigerungshaltung, die aus dem vorübergehenden Besitz zweier Pässe ein solches Drama macht. Mehrstaatigkeit ist Folge der hohen Mobilität, die offene Republiken in der heutigen Weltgesellschaft kennzeichnet. Sie ist kein Ziel an sich, sondern fällt als Begleiterscheinung von Masseneinwanderung und gemischten Ehen an. Erst wer über Jahrzehnte hinweg eine Reform verweigert, macht die Beibehaltung der alten Staatsangehörigkeit bei vielen Inländern ohne deutschen Paß zu einem Dogma und Gut an sich. Viele halten den Besitz mehrer Staatsangehörigkeiten offenbar für einen Gewinn an Multikulturalität. Damit bekräftigen sie in Wirklichkeit ein ethnisches Volksprinzip. Eine vollausgebildete Republik kommt ohne Problem mit Staatsbürgern verschiedener Herkunft klar. Die Amerikaner haben in der Regel einen Paß, egal woher sie kommen. In Deutschland hingegen sind Deutsche türkischer Abstammung und moslemischen Glaubens immer noch undenkbar. Die Bundesrepublik darf „Ausländer“ nicht weiter nur als Marktbürger nutzen und als Kulturbürger tolerieren, sondern muß sie auch als Staatsbürger anerkennen.

Die Bundesregierung hält am Rest ethnischen Deutschseins fest, weil sie, auch rückblickend, gegen besseres Wissen erklärt, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Und sie will, gegen wohlverstandene „nationale Interessen“, an dieser Lebenslüge festhalten. Jede „Zuwanderungsbegrenzungsregelung“ aus dem Hause Kanther bleibt Stückwerk, solange die Staatsbürgerschaft nicht grundlegend neu geregelt ist. Ohne sie ist der soziale Friede gefährdet.

Die Bundesregierung setzt mit ihrem Entwurf noch eins drauf, indem sie einen Keil zwischen erste, zweite und dritte Generation treibt. Damit spricht sie ihr Mißtrauen gegen die älteren Einwanderer aus, die immer noch nicht für würdig befunden werden, Deutsche zu sein, nachdem sie in Deutschland hart gearbeitet und Steuern gezahlt haben und in jeder Hinsicht einen „Gewinn“ darstellen. Und zugleich behält sie ihr Mißtrauen gegen die Schnupper- Deutschen, die den Nonsens einer „Staatszugehörigkeit“ auf Widerruf angeboten bekommen, statt sie ohne Wenn und Aber als Neubürger zu begrüßen.

Unser Vorschlag ist, den vorliegenden Gesetzentwurf der Ausländerbeauftragten aus dem Jahr 1993 in Bundestag und Bundesrat einzubringen. Er sieht vor, daß ein Kind die Staatsangehörigkeit durch Geburt in Deutschland erwirbt, wenn sich seine Eltern unbefristet in der Bundesrepublik aufhalten. Ferner besteht ein Anspruch auf Einbürgerung für alle Ausländer und Asylberechtigten, die sich acht Jahre rechtmäßig in Deutschland aufhalten. Ein solches Gesetz kann die Mehrheit der Stimmen des Bundestages finden. Es bedarf dazu nur zehn sich selbst treu gebliebener CDU- und FDP- Abgeordneter, vielleicht auch ein paar mehr, um mögliche sozialdemokratische Betonköpfe zu überstimmen. Die Abgeordneten sollten die Souveränität besitzen, mit einem reformfreudigen Schritt den Knoten der verkorksten Einwanderungspolitik zu durchhauen. Claus Leggewie/

Daniel Cohn-Bendit

Claus Leggewie ist Professor für Politologie an der Universität Gießen; Daniel Cohn-Bendit (Bündnis 90/Die Grünen) ist Mitglied des Europäischen Parlaments und Dezernent für multikulturelle Angelegenheiten der Stadt Frankfurt