: Kinderklassenkampf
■ Heute vor 35 Jahren streute Sandmann-Ost erstmals seinen Sand in Kinderaugen
Die Geschichte des Sandmanns liest sich wie eine Saga des kalten Fernsehkrieges, die 1959 in Berlin- Adlershof begann: Gerüchte, daß der Klassenfeind eine regelmäßige Gute-Nacht-Gruß-Sendung mit Sandmann plane, versetzten das Team des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in höchste Alarmbereitschaft. So wurde Sandmännchen-Ost in nur knapp zwei Wochen aus dem Boden gestampft. Das den Abendgruß bis heute begleitende Lied war sogar ein Notenschnellschuß: Musikredakteur Wolfgang Richter ließ sich durchs Telefon den Text diktieren, setzte sich ans Klavier und komponierte in nur drei Stunden das Sandmannlied. Heute vor 35 Jahren flimmerte dann der erste Abendgruß über die östlichen Mattscheiben.
Die Zeit, die sich die Genossen des DFF nicht gönnten, nahm sich der Klassenfeind. Ganze drei Jahre dauerte es noch, bis Sandmann- West auf Schlafkurs ging, ohne pädagogischen Zeigefinger und aktuelle Bezüge. Mußte sich Sandmann-West einem knallharten Werbediktat unterwerfen, war Sandmann-Ost auf höchster politischer Ebene eingebunden, ohne sich natürlich zu Themen der „großen Politik“ zu äußern.
Sandmann-Ost war nicht nur schneller, sondern auch langlebiger. Seit die Koproduktion von MDR und ORB auch auf Südwest 3 läuft, wurde der West-Sandmann im Januar still und leise ausgeblendet. Eine Welle der Solidarisierung wie zugunsten des Ost- Sandmannes habe es zwar nicht gegeben, berichtet Sigrun Traber, Assistentin der Sandmännchen- Redaktion, aber sie weiß von Kollegen aus dem Südwesten, die von einem „Aufschrei“ des Publikums berichteten. Jedoch zeige die ihr „zugetragene Resonanz“, daß die Westkinder „den kleinen Sandmann“ angenommen hätten.
Der ORB ehrt seine „Kultfigur“ mit einer ganzen Geburtstagswoche. Heute um 18.45 Uhr gibt es ein 15minütiges Sandmannsonderprogramm und am 27. November um 18.30 Uhr einen historischen Schwarzweißfilm, in dem noch das Originalarrangement des Liedes zu hören ist. Die neue Version mit „einigen veränderten Harmonien“ klingt in den Ohren des Komponisten „verschandelt“, meint Richter, der heute mit den „paar Tantiemen“ seine Rente aufbessert.
Auch eine neue Dauerausstellung des Filmmuseums Potsdam auf dem Babelsberger Filmgelände widmet sich der „Kultfigur“, die nach einem Märchen von Hans Christian Andersen entstanden ist. Trägt Sandmann bei diesem einen „Rock von Seide“, von dem „unmöglich zu sagen ist, welche Farbe er hat; denn er glänzt grün, rot und blau, je nachdem er sich wendet“, kommt die realsozialistische Märchenkopie im grünen Cape daher. Seine hellgrauen Ziegenlederstiefelchen führten ihn zu DDR-Zeiten nicht nur in „Unsere schöne Heimat“, sondern auch in Länder, die „Reisekadern“ vorbehalten waren: Indien, Afrika, Kuba, Japan, Lappland und den Irak (den Kosmos nicht zu vergessen!) kannte er lange vor dem Mauerfall. Erst danach setzte er als Kolumbus verkleidet mit der „Santa Maria“ über den Großen Teich. Die Idee eines Autors, das Deutschlandlied und die USA-Hymne dazuzuspielen, fiel zum Glück ins Wasser. Barbara Bollwahn
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