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Und die Luft schmeckt nach Schwefel

Abgase und Schwermetalle aus einer Nickelfabrik auf der russischen Kola-Halbinsel vergiften die Menschen und haben die Natur vernichtet / Norwegen will helfen, die Emissionen zu senken  ■ Aus Nikel Walter Saller

Beschneite Taiga, grauer Himmel, 5 Grad unter Null. Der weiße Wolga rattert vorbei an buschartigen Krüppelbirken, Bächen, zugefrorenen Seepfützen. Durch eine Landschaft der Kälte, der Dauerfrostböden, des Halbdunkels. 38 Kilometer liegen zwischen der nordnorwegischen Grenze bei Kirkenes und der Stadt Nikel auf der russischen Halbinsel Kola. Das Grenzgebiet ist eine leere Landschaft: kein Verkehr, keine Häuser, keine Menschen. Militärisches Sperrgebiet mit einer der weltweit höchsten Konzentrationen an konventionellem und atomarem Kriegswerkzeug. Hier, jenseits des Polarkreises, trifft nicht nur Nordeuropa auf Sibirien. Auf Kola grenzen ehemaliger Warschauer Pakt und Nato direkt aneinander.

20 Kilometer nach der Grenze recken sich tote Bäume gegen den Himmel. Erst sind es nur wenige, dann immer mehr. Es stinkt nach Schwefel. Sogar im Auto. 15 Kilometer vor Nikel beginnt die Wüste: kein Baum, kein Strauch, kein Grashalm, die gesamte Vegetation ist tot. Ein Friedhof. „Total environmental deterioration“, vermerkt die Legende einer norwegischen Spezialkarte: vollständige Zerstörung der Umwelt. Der grellfarbene, tödliche Kreis auf der Karte markiert einen Durchmesser von 30 Kilometern um Nikel. Und täglich wächst die Wüste. Das arktische Ökosystem ist empfindlich, die Vegetationsperiode kurz. Zwanzigmal länger als in den gemäßigten Breiten braucht die Natur zur Regeneration.

Alleen von Strommasten säumen die Straße. Sie ragen aus dem Schnee, verbinden die gefrorene Erde mit den braunen Wolken. Es ist der Schwefeldampf aus den drei Schloten der Nickelfabrik in Nikel. Allein die Schmelzanlage, sagt Chistopher Brodersen vom norwegischen Svanhovd Umweltzentrum, blase fünfmal soviel Schwefel und Schwermetalle in die Luft wie ganz Norwegen. Schwefel, Schwermetalle, Phosphate legen sich als trockene Schicht auf die Vegetation rund um die Stadt. „Und das“, so Brodersen, „erwürgt jedes Leben.“ Nicht nur in Rußland. Ostwinde tragen den Pesthauch weit nach Norwegen hinein.

Nikel liegt in einer kleinen Mulde. 40.000 Einwohner, pechschwarze Abraumhalden, graue Wohnblocks, Arbeiterkantinen, ein Marktplatz. Am Rande der Stadt befindet sich die Fabrik. Sie qualmt wie ein offenes Feuer: blau und grau und braun, dicht und ätzend. Der Qualm ist überall. Er brennt in den Augen, kriecht in die Nase, sticht in die Lunge. Und im Mund breitet sich ein metallischer Geschmack aus, als hätte man sich Pfennigstücke unter die Zunge gelegt. Die Emissionen der Fabrik, behauptet Wladimir Ulanow von der Murmansker Bezirksregierung, seien kein Problem. „Wir haben alles im Griff.“ 1986 habe man die Schmelzanlage wegen schlechter Wetterbedingungen sogar für einige Tage geschlossen. Überdies sei der jährliche Ausstoß von Schwefeldioxid zwischen 1991 und 1994 aufgrund der rückläufigen Produktion drastisch gesunken – von 250.000 Tonnen auf rund 180.000. Weitere Einbußen, sagt Ulanow, könne Nikel nicht verkraften: „Ohne Nickel kein Nikel.“

21.700 Menschen arbeiten für die gigantische, staatseigene Giftschleuder. Alles hängt an dem schweren Nutzmetall. Nickel ernährt die Menschen. Und es vergiftet sie, verkrüppelt ihre Kinder, zerstört ihre Landschaft. Das Verfahren, aus dem stark schwefelhaltigen Nickelerz reines Nickel zu gewinnen, ist denkbar einfach: Das Erz wird „geröstet“, in „oxidierender Atmosphäre“ erhitzt. Dabei entstehen reines Nickeloxid, Schwefeldioxidgas und Schwermetalle. Arsen, Antimon, Cadmium. Das Nickel wird zu achteckigen Blöcken gegossen, Schwefel und Schwermetalle aber werden „freigesetzt“ und rieseln unaufhörlich auf die Taiga, die Stadt und ihre Menschen.

Nähert man sich der Fabrik, verblassen erst die Farben, dann verschwimmen die Konturen. Ein Sarg aus Rauch und schwarzem Staub. Vor der Haupthalle steht ein mongolischer Arbeiter und schippt. Er trägt einen umgearbeiteten Sack, an den Füßen Reste von Schuhen. Im einstigen Paradies der Proletarier gehen die Arbeiter in Säcken und Lumpen.

170 Meter Länge mißt die Fabrikhalle, 25 Meter ist sie breit, 20 hoch. Ein kolossaler, surrealistischer Schrotthaufen. Den Boden der Halle bedeckt zäher, schwarzer Schleim, einen halben Meter mächtig. Auf dem Schleim liegen zerbrochene Ziegel, geborstene Motoren, zerschlagene Transformatoren, umgestürzte Fässer, faserige Asbestpappe, verknäulte Stahlbänder, zerschmissene Wodkaflaschen. Überall eine erbärmliche Armut, überall plumpe, lebensgefährliche Provisorien: geborstene Rohre münden in malachitgrüne Tümpel, offene, fingerdicke Stromleitungen laufen über verschimmelte Isolatoren. Und dort, wo im undurchdringlichsten Qualm die Arbeiter stehen, spritzt rotglühendes Nickel aus lecken Schmelztiegeln zu Boden. Nikel ist wieder dort angekommen, wo der Sozialismus einst anfing: in der Barbarei des Frühkapitalismus.

Mindestens 6,5 Milliarden norwegische Kronen (rund 1,5 Mrd. Mark), schätzt Oddrun Petersen vom Barents-Sekretariat in Kirkenes, dürfte eine Sanierung der Nickelruine kosten. „Damit“, so Petersen, „könnten die verheerenden Emissionen um 95 Prozent gesenkt werden.“ Die Umweltschäden sind in dieser Summe nicht enthalten. Ohnehin ist nur die Finanzierung von mageren 300 Millionen Kronen gesichert. Die Frage nach der Wirtschaftlichkeit – innerhalb der letzten Jahre sank der Preis für eine Tonne Nickel von 15.000 US- Dollar auf 5.000 – verbieten sich die Norweger. „Unser Ziel ist nicht“, sagt Petersen, deren Organisation 80 Umweltprojekte im Nordwesten von Rußland koordiniert, „die Russen Ökonomie zu lehren.“ Sie wollen die Verseuchung stoppen.

Knut Erik Nielsen, Forschungskoordinator der auf Rußland spezialisierten, norwegischen Umweltorganisation Bellona, spricht es aus: „Die Produktionsbedingungen in Nikel sind absurd, die Kostenrechnungen lächerlich, die Verluste beachtlich.“ Und das, obwohl der Nikel-Norilsk-Trust weder für die Energie – sie kommt aus den vier Reaktorblöcken des „weltweit unsichersten Kernkraftwerks“ bei Polyarny Zori – noch für den Transport des Erzes aus Norilsk bezahlt. Norilsk liegt hinter dem mittelsibirischen Fluß Jenisej, 2.500 Kilometer östlich von Nikel. Luftlinie. Mit dem Erz aus Norilsk, sagen die Menschen, sei der schleichende Tod gekommen. Das sibirische Erz, das seit den späten siebziger Jahren verhüttet wird, ist reicher als das Erz aus Zapoljanyj, 15 Kilometer östlich von Nikel. Aber auch schwefel- und schwermetallhaltiger und damit giftiger.

Als die sechzigjährige Alexandra Fjodorowna Pjestrikowa Anfang der siebziger Jahre aus Brensk nach Nikel kam, waren die Monatslöhne mit 250 Rubel dreimal so hoch wie im Süden und die Wohnungen groß genug. Alles sei grün gewesen. „Und jedes Jahr gab es einen Urlaub am Schwarzen Meer.“ Anfang der achtziger Jahre aber begann sich die Schwefelwüste um Nikel auszubreiten, die Kinder wurden krank, und viele flüchteten in den Süden. Als Gorbatschow kam und die Inflation die Ersparnisse fraß, wurde Alexandra Fjodorowna zur Gefangenen in Nikel. Die 2.000 Rubel, die sie in zwanzig Jahren mühsam angespart hatte, um eine Datsche im Süden zu kaufen, schrumpften innerhalb weniger Jahre auf den Wert einer Schachtel Zigaretten. Jetzt wählt Alexandra Fjodorowna den Rechtsradikalen Schirinowski.

Auch Maria Sergejewna Galaburda stammt aus dem Süden. Schon Anfang der sechziger Jahre kam die 55jährige nach Nikel. Aus Lipezk, 400 Kilometer südlich von Moskau. Dreißig Jahre hat sie in der Fabrik gearbeitet. Und darauf ist sie stolz. „Es war kein schlechtes Leben in Nikel“, sagt Maria Sergejewna. Nur die Kinder seien oft krank geworden, hätten viel gehustet. Ihre Tochter wurde schon krank geboren. „Mit einer Art Dauergrippe“, sagt Maria Sergejewna und meint chronische Bronchitis und Asthma. Insgesamt jedoch sei es allen gutgegangen in Nikel, damals, als Breschnew im Kreml regierte. Und wenn die Produktionszahlen stimmten, gab es einen Sonderbonus: mehr Geld, mehr Waren, mehr Urlaub.

Dann aber seien Glasnost und Perestroika gekommen, der Rubel wurde wertlos, und all die Banken, die hohe Renditen versprachen, gingen pleite. „Gorbatschow“, sagt Maria Sergejewna, „hat Nikel zerstört.“ In der Fabrik werde kurzgearbeitet, die Werksläden seien geschlossen, die Betriebskindergärten aufgelöst. „Nur der Alkoholismus nimmt zu.“

Früher kamen die Menschen nach Nikel, schufteten zwanzig Jahre, atmeten schwarzen Staub und gelben Schwefel. Dann zogen sie wieder in den Süden. Heute gibt es kein Zurück. Wie sich der Daueraufenthalt in Nikel auf die Gesundheit der Menschen auswirkt, weiß niemand. Medizinische Untersuchungen fehlen. Bekannt ist nur, daß die Lebenserwartung der Menschen im arktischen Rußland 1965 bei 62 Jahren lag. Heute beträgt sie 50. Nächstes Jahr, sagt Ludmilla Petrowna, Atombeauftragte für die Kola-Halbinsel, sollen 20.000 Menschen auf umweltbedingte Krankheiten untersucht werden. Dann wird es Daten geben. Für Murmansk, Nikel, Monchegorsk.

Monchegorsk liegt 50 Kilometer südlich von Nikel. Auch dort wird Nickelerz gefördert. Die Umweltkarte verzeichnet neben einer toten Zone einen grünen Pilz. Um das Erz abzubauen, wurde eine Atombombe gezündet. In Monchegorsk soll alles noch schlimmer sein als in Nikel. Aber was ist die Steigerung von „total environmental deterioration“?

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