: „Idiotische Jagd auf Badelatschen“
Beginn der „Operation Rio“: Militärs stürmen die Armenviertel auf der Suche nach Drogen – die Villenviertel bleiben verschont / „Wiederherstellung der Staatsgewalt“ ■ Aus Rio de Janeiro Astrid Prange
Die Bilanz des ersten Wochenendes der „Operation Rio“ ist mager. In neun Elendsvierteln von Rio de Janeiro sind die Soldaten eingedrungen, alle Hauptzufahrtswege haben sie kontrolliert – aber nur wenige Drogen und Drogenhändler sind der Armee in die Fänge gegangen. Lediglich 52 „Cariocas“, Einwohner Rios, wurden festgenommen, weil sie sich nicht ausweisen konnten. Ein Soldat wurde am Samstag bei der Besetzung des Viertels Mangueira angeschossen und mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert.
Zuletzt hatten die Militärs im Juni 1992 während der UNO-Umweltkonferenz in Rio für Ordnung gesorgt. Seit dem 31. Oktober nun sind sie gemäß einer Vereinbarung zwischen Brasiliens Präsident Itamar Franco und Rios Gouverneur Nilo Batista für die Verbrechensbekämpfung in der Metropole zuständig.
Zwar gelten die Elendsviertel als Trutzburgen des Drogenhandels. Doch die ostentative Besetzung der Favelas mit schwerbewaffneten Soldaten und Panzern ist in der Öffentlichkeit äußerst umstritten.
Der Direktor der brasilianischen Bundespolizei (PF), Wilson Romao, hält den Ansturm auf die Favelas schlicht für „idiotisch“. „Es lohnt sich nicht, Badelatschen auf den Hügeln zu jagen. Wir wissen, daß die großen Fische in den vornehmen Vierteln residieren“, vertraute er der brasilianischen Tageszeitung Folha de São Paulo an. Jose Genoino, Abgeordneter der Arbeiterpartei PT im brasilianischen Parlament, hatte sich den Ablauf der Militäraktion etwas diskreter vorgestellt. „Ich dachte, das Heer wäre für die logistische Unterstützung der Polizei zuständig“, gab er zu bedenken. Wichtig sei in erster Linie die Reorganisation der Polizei, denn schließlich könnten die Soldaten die Elendsviertel der Stadt nicht auf unbestimmte Zeit besetzen.
Die 70.000 Bewohner des Elendsviertels „Mangueira“, bisher weltberühmt für ihre traditionelle Sambaschule, ließen den Angriff der Uniformierten mit gemischten Gefühlen über sich ergehen. Der Vorsitzende der Anwohnervereinigung der Favela, Enilton Ribeiro Barbosa, schloß bis auf weiteres das Bürgerbüro auf dem Hügel, bescheinigte den Soldaten jedoch „korrektes Verhalten“. Andere Bewohner wie Alexandre Costa empfanden die rigorosen Leibesvisitationen, der die Favela- Bewohner ausgesetzt sind, schlicht als Demütigung und Willkür.
Und nach Angaben des Militärkommandos geht es bei der Aktion auch gar nicht in erster Linie um die Jagd auf Drogenhändler, sondern um die mühsame Rückeroberung von Rios rund dreihundert Elendsvierteln durch die Staatsgewalt. Nur die „markante Präsenz“ des öffentlichen Gewaltmonopols könne das organisierte Verbrechen trockenlegen. Der psychologische Effekt von Panzern und Soldaten auf den Straßen sei nicht zu unterschätzen.
Auch wahrscheinlich ist, daß es sich bei der Operation Rio um ein rein psychologisches „Abschiedsgeschenk“ von Brasiliens scheidendem Präsident Itamar Franco an die gewaltgeplagten „Cariocas“ handelt. Denn selbst wenn die Militärs in Rio de Janeiro langfristig hart durchgreifen würden – für die zahlreichen Angehörigen der Unterwelt ist im Gefängnis gar kein Platz. Nach dem jüngsten Zensus des brasilianischen Justizministeriums unter Strafgefangenen, der in dieser Woche veröffentlicht wird, quetschen sich auf den insgesamt 60.000 Plätzen hinter Gittern insgesamt 129.000 Häftlinge. 275.000 Haftbefehle werden wegen Platzmangels gar nicht erst vollstreckt.
Laut offizieller Statistik stammen 95 Prozent der Gefängnisinsassen aus den Favelas, den Armenvierteln. Für Verbrecher mit weißen Kragen hingegen ist Brasilien ein Paradies: Nur 0,04 Prozent aller Inhaftierten sitzen wegen Korruption ein. Und kaum ein Brasilianer muß für Steuerhinterziehung hinter Gitter. Nur 0,004 Prozent der Inhaftierten sitzen wegen dieses Deliktes.
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