Spekulieren auf Investoren

In Rußland beginnt die zweite Phase der Privatisierung / Staatsunternehmen hoffen auf frisches Kapital / Vereinbarung über Bankrotte  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Anatoli Tschubais ist neuerdings als stellvertretender Ministerpräsident für die ganze russische Wirtschaft zuständig. Daß er damit gleichzeitig seinen Platz an der Spitze der Privatisierungsbehörde verläßt, beendet für viele Beobachter eine Epoche. Denn Tschubais galt als Garant für die Überführung der staatlichen Betriebe in private Hände.

Sein Konzept wird seit dem Jahreswechsel 1992/93 umgesetzt. Seitdem werden sogenannte Voucher an die Bevölkerung ausgegeben. Diese Voucher geben dem Besitzer das Recht, Aktien eines Unternehmens zu erwerben. Wenn jemand dieses Risiko scheut, lassen sich die Voucher recht einfach zu barem Geld machen: Man verkauft sie an einen Investitionsfonds und hat mit der Börse und den Aktien nichts mehr zu tun. 70 Prozent der Industrie wurde inzwischen auf diese Weise privatisiert; der Rest soll nun in einer zweiten Stufe folgen.

Schon heute steht fest, daß Tschubais Initiative als beispiellose politische Aktion in die Geschichte eingehen wird. Denn in der Psyche der RussInnen hat sich dadurch in kürzester Zeit ein revolutionärer Umschwung vollzogen: 40 Millionen RussInnen sind heute Aktienbesitzer; viele von ihnen denken und reden heute wie Kleinunternehmer und Kleinspekulanten.

Tschubais ehrgeizigsten Plan wird nun sein Nachfolger durchsetzen müssen: den Verkauf der noch staatlichen Unternehmensanteile an kapitalkräftige Investoren. Nicht mehr für Voucher, sondern gegen Geld soll in der zweiten Stufe privatisiert werden.

Die Aktien blieben bei den Bossen des alten Systems

Natürlich war die Privatisierung weder als Selbstzweck noch als Glaubensbekenntnis gedacht, sondern sollte neuen Schwung in die russische Wirtschaft bringen. Das gelang nur teilweise, denn in Wirklichkeit verfügen nicht die vielen Kleinaktionäre über wirtschaftlichen Einfluß, sondern die großen Investitionsfonds, in deren Händen sich die Voucher alsbald konzentrierten. Außerdem waren große Aktienpakete den Belegschaften vorbehalten, der Löwenanteil natürlich den Kapitänen am Steuer der Ex-Sowjetwirtschaft. Den Verkauf weiterer Pakete reservierte man für „später“.

Da sich außerdem der russische Staat bei der Voucher-Privatisierung größere Aktienpakete der mächtigsten Unternehmen vorbehielt, stellte die Aktion in nicht ganz so hohem Maße eine Entstaatlichung dar, wie man es In- und AusländerInnen weismachen wollte. Immerhin: Schon 54 Prozent der in Rußland hergestellten und verkauften Waren entstammen heute dem nichtstaatlichen Sektor.

Doch deshalb wird nicht überall rationeller produziert. Die Direktoren der privatisierten Unternehmen weisen auf veraltete Maschinenparks und andere schlechte Produktionsmittel hin, die den Fortschritt behindern. Daneben fehlt für die notwendige Modernisierung das Kapital. Deshalb sieht Anatoli Tschubais den Sinn der jetzt beginnenden zweiten Etappe der Privatisierung darin, endlich klingende – darunter auch ausländische – Münzen auf die maroden Mühlen der ex-sowjetischen Wirtschaft zu lenken. Die Duma hat die dafür notwendige Rechtssicherheit bis heute verwehrt, auch wenn Präsident Boris Jelzin das Gesetz übergangsweise per Dekret in Kraft gsetzt hat.

Mit wenig Informationen zu hohen Gewinnen

Dennoch ist die Privatisierung nach dem Ende ihrer ersten und vor dem Beginn ihrer zweiten Phase nicht stehengeblieben. Regelmäßig werden neue Aktien, die bei der Voucher-Privatisierung übriggeblieben sind, ausgegeben, um die Unternehmen besser mit Kapital auszustatten. Nun hat der Präsident sogar die Unternehmen des staatlichen Energiesektors, wie die Mammutgesellschaft „Gasprom“, zur Versteigerung freigegeben.

Welche Konzerne noch privatisiert werden, ist allerdings kaum zu prognostizieren: Eine Übersicht, welche Firmen schon in der zweiten Privatisierungsphase stecken, ist nirgendwo zu erhalten.

Eine Prognose hat sich inzwischen bestätigt: Der Wert der russischen Wirtschaft auf dem Weltmarkt ist gestiegen. Ablesen läßt sich das an den Preisen, die bei den Unternehmens-Auktionen erzielt werden. Anfangs, als noch die Voucher versteigert wurden, erzielten die Unternehmensanteile sehr viel geringere Preise als bei den jetzt begonnenen Auktionen in der zweiten Phase der Privatisierung.

So konstatierte die Wochenzeitschrift Kommersant, daß der Marktpreis von Aktien ausnahmslos aller privatisierten russischen Unternehmen gestiegen ist, ganz gleich, ob deren Erwerb „in“ ist oder nicht. Welche Unternehmen „in Mode“ seien – so klagt man an den Börsen – hänge allerdings weit mehr von bestimmten Vorstellungen über einzelne Wirtschaftszweige ab als von genauen Käuferkenntnissen über den Zustand einzelner Unternehmen. Die sind nämlich nach wie vor äußerst schwierig zu erlangen. Wilde Kursschwankungen sind darum an den russischen Börsen weiterhin zu erwarten.

Nach wie vor setzen russische InvestorInnen auf rohstoffverarbeitende Unternehmen, aber auch auf alle Industriezweige, die im weitesten Sinne dem Verkehr und der Kommunikation dienen. Einige der Giganten auf diesem Gebiet haben gerade für die zweite Hälfte dieses Monats Verkäufe angekündigt, so die Firma Nikel Norilsk, deren Aktien bei einem Nominalwert von 250 Rubeln schon zum Mimimalpreis von 10.000 Rubeln angeboten werden sollen. Oder die Gesellschaft „Wolga- Flußschiffahrt“, bei der das Verhältnis 500 zu 10.000 Rubel beträgt.

Selbstverständlich standen auch hinter der staatlich gelenkten Voucher-Privatisierung seinerzeit die Interessen realer gesellschaftlicher Kräfte. Dieser Herbst aber hat gezeigt, daß sich die Privatisierung in Rußland zunehmend von ihrem behördlichen Image befreit und nun ganz offen ihrer eigenen Dynamik folgt.

Im November wurde nun eine Vereinbarung getroffen, die wieder enorme Bedeutung für die russische Wirtschaft haben wird — ähnlich wie die Voucher, die unter Tschubais eingeführt wurden. Die „Föderale Konkursverwaltung“ (eine Unterabteilung der Privatisierungsbehörde) und der „Russische Staatseigentums-Fonds“ haben sich sehr detailliert darüber geeinigt, wie Bankrottverfahren bei Unternehmen mit einem hohen Anteil von staatlichen Kapitaleinlagen abzuwickeln sind.

Wichtig wird diese Regelung für die sogenannten „städtebildenden Unternehmen“ – gigantische Konzerne, von denen oft ganze Städte und Regionen abhängig sind. Diese Mammutunternehmen werden nun zu einem Aktien-Minimalpreis privatisiert. Dadurch sollen Investoren ermuntert werden, die riesigen finanziellen und sozialen Probleme in diesen Städten und Regionen anzupacken.

Wenn die ersten morschen Staatsbetriebe dieses Ausmaßes unter den Hammer kommen, hat endgültig das letzte Stündlein der sozialistischen Planwirtschaft geschlagen.