Im Land, wo die Neurosen blühen

■ Mit 20 Jahren Verspätung in den deutschen Kinos, mit einer Woche Verzögerung jetzt endlich auch in Hamburg neu zu entdecken: „Martha“ von Rainer Werner Fassbinder

Vor der deutschen Botschaft in Rom sehen sie sich zum ersten Mal: Martha Hyer, spätere Salomon, die Formalitäten zu erledigen hat, denn ihr Vater ist gerade auf der Spanischen Treppe gestorben; und Helmut Salomon, der nach einem Taxi sucht. Sie gehen aufeinander zu, zwei sich zufällig begegnende Passanten. Und schon hier spielt die Kamera (Kameramann: Michael Ballhaus) Schicksal: Sie dreht sich um Martha (Margit Carstensen) und Helmut (Karlheinz Böhm), und im Sog der Kamera drehen sie sich im Bild noch einmal umeinander. Ein Reigen der Bilder, mit dem ein Tanz der Gefühle wie aus den Kindertagen der Emotionen beginnt. Und zugleich der Anfang eines Blickes in die Zeit, als der Film in Deutschland sich mit Recht der Neue Deutsche nennen durfte.

Rainer Werner Fassbinder hat das Melodram Martha nach Motiven von Cornell Woolrich im Jahre 1973 gedreht. Am 28. Mai 1974 wurde er von der ARD ausgestrahlt. Seitdem lag er in den Regalen. Erst jetzt, nach 20 Jahren, kommt er in die deutschen Kinos. Und erst damit hat er seinen Platz gefunden. Denn diese stilisierten, wie gestochen abgezirkelten Bilder haben schon damals nicht in das Viereck eines Bildschirms gepaßt.

Auf einem Bankett in Deutschland treffen sich Martha und Helmut wieder. Diesmal bricht Marthas Mutter zusammen, zuviel Beruhigungsmittel raunen die Bankettgäste. Sie überlebt, kollabiert aber, Helmut hat Martha gerade einen Hochzeitsantrag gemacht, erneut. Helmut läßt sie ins Irrenhaus einweisen, und Martha läßt es geschehen.

Mit großer Ruhe entwickelt Fassbinder aus diesem Ausgangspunkt die Geschichte, die Geschichte einer Unterwerfung, die in die eines Realitätsverlustes kippt, um dann in der einer mißglückten Flucht zu enden. Denn Helmut, der Traummann, wird zum Monster, und Martha läßt es wieder geschehen. Am Schluß kriegt sie die Beruhigungsmittel, von denen ihre Mutter schon zu Beginn abhängig war. Deutschland in den 70er Jahren, das Land, in dem die Neurosen blühen. Nach dem Film hat man das Gefühl, als müßten die Emotionen erst wieder laufen lernen. Vor allem im Gesicht von Margit Carstensen drückt es sich aus: die Sehnsucht nach Glück, die sich an den Mann koppelt, und die Angst, das Glück zu verfehlen. Daß sich das große Glück dann in das große Unglück verkehrt, ist der Antriebsmoment des Films.

Seit zwölf Jahren ist Rainer Werner Fassbinder jetzt schon tot. Seitdem ging es mit dem deutschen Kino bergab. Werner Herzog hat seitdem manches Abenteuer bestanden, Wim Wenders hat seine Engel gefunden und wieder verloren, und manch andere hübsche Geschichte wurde auf die Leinwand gebracht. Aber diese Lust auf Gegenwart, auf Analyse - und zugleich diesen Spaß am Melodramatischen -, das hat es seit dem Tod von Fassbinder im deutschen Film nicht mehr gegeben. So einer wie er fehlt sehr. Dirk Knipphals

Alabama, 20.15 Uhr