Den Zug verlassen

■ Komponist Alfred Schnittke feiert heute 60. Geburtstag

„Ich erinnere mich, daß mich einmal eine Studentin angerufen und gefragt hat, was Polystilistik sei - und ich konnte ihr nichts sagen, obwohl ich das Wort als erster gebraucht habe.“ - Ein Paradox: Seit rund 20 Jahren gilt Alfred Schnittke als der „Komponist der Polystilistik“, er selbst prägte diesen Ruf und verweigert doch eine Definition dieser ihm eigenen Gattung. Schnittke, so scheint es, ist ein Mensch, der sich nicht festlegen kann und will: ein Wanderer zwischen russischer und deutscher Kultur, vom Judentum zum Katholizismus, ein Komponist, der sich in allen Gattungen auszudrücken vermag und dabei Stile aller Epochen verarbeitet. Heute feiert Schnittke, der seit 1990 in Hamburg lebt, seinen 60. Geburtstag.

Schnittke wurde in Engels an der Wolga geboren. Die Mutter war katholische wolgadeutsche Lehrerin, der Vater ein Journalist jüdischer Abstammung. Die Musik trat jedoch in Wien während eines Aufenthaltes nach dem zweiten Weltkrieg in sein Leben: Mozart und vor allem Schubert. Wieder in Moskau besuchte Schnittke in den 50ern das Konservatorium. Trotz entscheidender Konfrontationen mit der Musik Strawinskys und der zweiten Wiener Schule nennt Schnittke den Kontakt mit Luigi Nono 1963 in Moskau als besonders einschneidende Begegnung: „Es zeigte sich, daß seine Musik nicht nur Kopfarbeit war - das Herz entschied“. Die Devise „L'art pour l'homme“ statt „L'art pour l'art“ hängt auch mit Schnittkes jahrzehntelanger Tätigkeit als Filmkomponist zusammen, mit der er seinen Unterhalt sicherte.

„Meine musikalische Entwicklung verlief über Klavierkonzertromantik, neoklassizistische Schulweisheit, eklektische Syntheseversuche, und kannte auch die unvermeidlichen Mannhaftigkeitversuche der seriellen Selbstverleugnung. Doch dann beschloß ich, aus dem überfüllten Zug auszusteigen.“ Das Vorgehen Schnittkes läßt sich an den Sinfonien aufhellen: Die Erste bietet in traditionsbewußter, formvollendeter Viersätzigkeit ein chaotisches Stelldichein verschiedenster Komponisten, das jedoch nie den sinfonischen Atem verliert. Die Dritte reflektiert den Weg deutscher Musik von Bach bis heute, die Vierte verbindet Kirchenmusik vier verschiedener Bekenntnisse. In einer autonomen Klangsprache verbindet Schnittke in seinem Werk die verschiedensten Stile - Zitation, Imitation und Collage gehören zu seinen Mitteln.

Natürlich kam diese Musik in der Sowjetunion anfangs nur sehr begrenzt in die Konzertsäle. Der internationale Erfolg des inzwischen meistaufgeführten Komponisten der Gegenwart setzte ab 1977 ein. In den 90ern erhielt Schnittke wichtige Preise, Furore machte die Uraufführung der ersten Oper Leben mit einem Idioten 1992 in Amsterdam und zuvor 1989 das Peer Gynt-Ballett in Hamburg.

John Neumeier hatte schon die erste Sinfonie und das Concerto Grosso Nr. 1 vertanzt, als er Schnittke um eine Vertonung des Ibsen-Stoffes bat. Die Beziehung zu Hamburg vertiefte sich. Ein Jahr später erhielt Schnittke neben der russischen die deutsche Staatsbürger-schaft.

Im Juni 1995 soll endlich die langerwartete Faust-Oper nach der vor Goethes Drama entstandenen Sage von Johann Spies an der Hamburger Oper in John Dews Inszenierung uraufgeführt werden. Schon ein Monat vorher wird die Wiener Staatsoper eine weitere Oper, Gesualdo, uraufführen. Doch es ist unsicher, ob der Urheber diesen Großereignissen beiwohnen kann. Seit seinem dritten Schlaganfall im Juni liegt Schnittke in einer Hamburger Klinik. So fehlte er leider auch bei den diversen Geburtstagsveranstaltungen für einen Komponisten, dem es nicht darum geht, „wie ich etwas kompositorisch ausdrücke, sondern um das, was ich sagen will.“ Niels Grevsen

Geburtstags-Konzerte heute in der Freien Akademie der Künste und am 30.11. in der Musikhochschule. Demnächst erscheint eine Festschrift im Sikorski-Verlag.