Vom Verschwinden der Trauerarbeit. Ein Versuch Von Klaudia Brunst

Es hat natürlich auch Vorteile, wenn man seine Wohnung wieder für sich hat. Nicht daß es mir gefallen würde, daß es meine Freundin immer noch vorzieht, bei ihrer Mutter zu logieren. Aber in kritischen Lebenlagen heißt es Contenance bewahren. Und so habe ich den Gedanken, meiner Liebsten noch am gleichen Abend hinterherzureisen, letztlich verworfen. Der Hund allerdings fehlt mir doch sehr, besonders die abendliche Runde um den Block wirkt ohne ihn irgendwie lächerlich. Aber mit der Ersatzleine lässig um den Hals gelegt, falle ich, ab und zu einem Phantom hinterherpfeifend, im Rudel der Gassigänger kaum auf.

Meinen Freunden, besonders den falschen, gefällt es offenbar ganz gut, daß ich nun wieder mehr Zeit für sie habe. Nur so ist der Anruf von Erika zu erklären, einer jener Bekanntschaften, die man in den Proseminaren der philosophischen Fakultät allzu leichtfertig schließt und während der Oberseminare dann immer noch nicht losgeworden ist. Erika also rief mich neulich unerwartet an und erkundigte sich derart emphatisch nach meinem Befinden, daß ich den Braten eigentlich gleich hätte riechen müssen. Aber Bratengeruch ist derzeit das letzte, was mein lädierter Magen verträgt.

Mit dürren Worten umriß ich also meine derzeitige Lebenslage (Freundin weg, Hund weg, Katze traurig, Birkenfeige vertrocknet) und lauschte im Gegenzug einem Kurzreferat über Erikas jüngste Lektüre „Vom Verschwinden der Trauerarbeit. Ein Versuch“. Dort habe sie erfahren, daß in der zivilen Gesellschaft der Neuzeit, jener Epoche also, die sich endgültig von den theologischen Heilsversprechen abgewendet habe, vor allem der Intellekt das Verlusttrauma aufzufangen habe, während in den sogenannten Naturgesellschaften die Hinterbliebenen im Hinblick auf eine erwartbare Gotteserfahrung durch handwerkliche Betätigungen wie der Bereitstellung der Totenstätte und dem Fertigen des Leintuchs ihrem im Diesseits erlittenen Verlust einen ganz neuen, „physisch faßbaren“ Sinn geben würden. Wir könnten von diesen Naturvölkern eine Menge lernen, meint Erika. Nicht umsonst seien in Regionen wie dem südlichen Kongo psychosomatische Körperdysfunktionen völlig unbekannt.

Irgendwie erschien mir dieses Konglomerat aus Gesellschaftskri tik und Naturgläubigkeit doch reichlich spontan zusammenphilosophiert. Um Erikas Einlassungen aber nicht weiter unnötig in die Länge zu ziehen, unterdrückte ich den Impuls, ihr zu widersprechen. Im Gegenteil zeigte ich mich scheinbar beeindruckt, fragte höflich nach den bibliographischen Angaben des referierten Meisterwerks und schmiß Erika zur Untermauerung meines vitalen Interesses noch mein aus Trauer erwachsenes Magengeschwür zu Füßen. Dann wünschte ich ihr für ihre weitere Zukunft eine glücklichere, weil physisch abgearbeitete Trennungsgeschichte.

Großzügig verwarf Erika daraufhin die Hilfestellung in Form der leihweisen Überlassung ihrer Erstausgabe, sondern verpflichtete sich spontan zu einer Art körperorientierter Verlusttherapie. Wie es der Zufall so wolle, zöge sie nämlich am Wochenende um und könne durchaus noch die ein oder andere helfende Hand gebrauchen. Das sei zwar zugegebenermaßen eine Ersatzhandlung, aber doch immerhin eine Handlung.