US-Anleger flüchten aus der Wall Street

■ Kursstürze an alle anderen Börsen der Welt / Flucht in den Anleihenmarkt

Berlin (taz) – Die US-amerikanischen Aktienspekulanten haben derzeit die Wahl zwischen Pest und Cholera. Boomt die Wirtschaft weiter, droht Inflation – ganz schlecht für Aktienkurse. Dämmt die Zentralbank die Inflationsgefahr ein, indem sie die Zinsen erhöht, würgt sie damit den wirtschaftlichen Boom ab – das ist genauso schlecht für Aktienkurse. So kam es, wie es kommen mußte: An der New Yorker Börse stürzte am Dienstag der Dow-Jones-Aktienindex um satte 2,43 Prozent ab. Seit Wochenbeginn waren es zusammen minus 3,6 Prozent.

Auf den New Yorker Crash reagierten alle anderen Börsen der Welt ebenfalls mit Einbrüchen. In London waren gestern schon zehn Minuten nach der Öffnung der Börse die Kurse um 1,2 Prozent gefallen; der Financial-Times-Index schloß am Ende mit einem Minus von 1,98 Prozent. Das deutsche Gegenstück, der DAX, magerte um 1,99 Prozent auf nur mehr 2033,31 Punkte ab. Von Tokio bis São Paulo dasselbe Bild.

Der dienstägliche Sturz in der Wall Street war der tiefste seit Februar dieses Jahres, als die US- Zentralbank Federal Reserve (Fed) begann, an der Zinsschraube zu drehen. Seither hat sie sechsmal die Zinsen erhöht, um ein Überhitzen der Konjunktur zu verhindern, zum letztenmal vor einer guten Woche. Durchaus mit Erfolg, von Inflation kann in den USA keine Rede sein. Die durchschnittliche Preissteigerung betrug 1994 nur 2,6 Prozent, das ist weniger als im Vorjahr.

Das hindert die Börsianer nicht daran, sich gleichermaßen vor Inflation und vor höheren Zinsen zu fürchten. „Die Börse beginnt endlich zu ahnen, wieviel Wachstum geopfert werden muß, damit die Fed die Inflationsgefahr in den Griff bekommt“, sagte ein Anlagespezialist.

Hohe Zinsen verteuern nicht nur Investitionen und bremsen damit das Wirtschaftswachstum, sie lassen auch andere Anlageformen attraktiver erscheinen.

Die Anleger flüchten sich somit lieber in sicherere Gefilde. Mit festverzinslichen Anleihen läßt sich, seit die Zinsen so stark gestiegen sind, deutlich mehr verdienen als mit Aktien: Zuletzt lag die Rendite von US-Staatsanleihen mit 30 Jahren Laufzeit bei über acht Prozent im Jahr. „Da muß man sich schon sehr anstrengen, um acht Prozent mit Aktien zu verdienen, jedes Jahr, dreißig Jahre lang“, erklärte ein Investmentbanker die Vorzüge der Anleihen.

Es sind vor allem die konjunkturabhängigen Branchen, wie der Bau, die Autoindustrie, die Maschinen- und Computerausrüster, die am schlimmsten mitgenommen wurden. So mancher US-Anleger sieht daher sogar schon die ersten Zeichen einer kommenden Rezession. Nicola Liebert