: Kohl, der neue Radikalreformer
Regierungserklärung Kohls klingt wie das Programm eines neuen Kanzlers / Rudolf Scharping kündigt konstruktive Oppositionspolitik an, Joschka Fischer mag es eine Nummer schärfer ■ Aus Bonn Hans Monath
Ja, wie nun? Wer spricht denn da gerade? Soll das etwa der auf der Regierungsbank festgewachsene Kanzler Helmut Kohl sein, der seit nunmehr zwölf Jahren als Regierungschef deutsche Politik gestaltet hat? Hören wir recht? Ist das wirklich der Boß der konservativ-liberalen Koalition, dessen entscheidende Qualität doch das Aussitzen ist?
Nein, der da vor dem Bundestag steht und seine Regierungserklärung abgibt, muß ein neuer Kanzler sein. Als christdemokratischer Radikalreformer preist er sich und sein Kabinett.
Gesellschaft, aufgepaßt: „Umdenken“ müssen wir alle! Das „Gemeinwohl“ muß gegen „Einzel- und Gruppeninteressen“ gestärkt werden. Es gilt, das Land fit zu machen für das nächste Jahrhundert, das nächste Jahrtausend gar.
Staat, herhören: Überflüssige Gesetze und Regelungen dienen der „Verfestigung von Besitzständen“, das „Beharrungsvermögen der Bürokratie“ nützt den Wünschen von Verbänden und Interessenvertretern. Der christdemokratische Reformer, der gestern am Rednerpult stand, will im Interesse der Zukunft fast alles anpacken und anders machen. Forsch droht er, „diese Verkrustungen aufzubrechen“.
Von der knappen Mehrheit, vom eingeengten Spielraum der neuen Regierung war gestern in Kohls gut siebzigminütiger Regierungserklärung sowenig die Rede wie von der Verantwortung der Koalition für jene sozialen Mißstände und jenes Klima des Egoismus und der sozialen Kälte, die der Regierungschef selbst bedauerte. Allein, aus den vielen etwas konkreteren Absichtserklärungen des neu-alten Regierungschefs war denn nicht mehr herauszuhören als die Botschaft: Wir machen weiter wie bisher.
Rudolf Scharping machte in seiner ersten Rede als Fraktionschef der SPD denn den Unterschied zwischen Versprechungen und konkreter Politik stark: „Das Entscheidende sind die Taten.“ Und mit Taten hat die Koalition nach Meinung des Oppositionsführers in den vergangenen zwölf Jahren all das konterkariert, was Kohl gestern als ihre angeblichen Ziele hinstellte: die Gleichberechtigung der Frauen ebenso wie die Integration der neuen Länder, den Umweltschutz ebenso wie eine kinder- und familienfreundliche Gesellschaft.
Nicht Opposition gegen die Regierung um jeden Preis, sondern die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen soll laut Scharping die Leitlinie der Oppositionspolitik in den kommenden vier Jahren sein. „Konstruktiven Gebrauch“ werde die SPD dabei von ihrer Stärke im Bundesrat machen, kündigte er an.
Ihr Ziel der Integration, so der SPD-Chef, werde seine Fraktion auf drei Feldern verfolgen: die Integration der Menschen aus den neuen Ländern, die Integration und Gleichberechtigung von Frauen und schließlich die Integration „jener Menschen, die mit einem anderen Paß unter uns leben“.
Im Zusammenhang mit der Ausländerpolitik und der Haltung der Regierung gegenüber der DDR-Vergangenheit fand Scharping, der die simple Rechts- Links-Etikettierung des Wahlkampfs gestern offenbar bewußt vermied, scharfe Worte. Auch Koalitionszwänge, so hielt er dem neu-alten Kanzler vor, „rechtfertigen eine solche Lächerlichkeit wie diese Schnupperstaatsbürgerschaft in keiner Weise“. Und die Weigerung, die Heym-Rede im Regierungs-Bulletin abzudrucken, nannte Scharping ein „schändliches und beschämendes Vorgehen“.
Von der konstruktiven Oppositionspolitik, die Scharping ankündigte, grenzte sich Joschka Fischer deutlich ab. „Es ist Pflicht der Opposition, alles zu tun, damit diese Regierung so schnell wie möglich abgelöst werden kann“, erklärte der Sprecher der bündnisgrünen Fraktion. Die Regierung habe weder die Kraft noch den Mut, die notwendige Erneuerung der Industriegesellschaft in Angriff zu nehmen. Allerdings werde auch seine Partei keine blindwütige, sondern sachorientierte Oppositionspolitik betreiben, versprach der Ex-Umweltminister aus Wiesbaden: „Eine Oppsition der Dämlichkeit dürfen Sie von uns nicht erwarten.“
Nur einmal spendeten gestern alle Fraktionen Kohl Beifall. Der Kanzler hatte einen Appell an die bosnischen Serben gerichtet, das Morden zu beenden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen