Heute sperrt MTV 2.500 ausgewählte Zuschauer in ein Zelt vor dem Brandenburger Tor, das durch eine Plexiglaswand als Bühnenhintergrund erscheint. Im Innern vergeben Stars Preise an Stars. Tom Jones ist Alterspräsident. Von Thomas Groß

Megakreatives Movement in Berlin

Zuerst sollte es ganz an die riesige Zeltkonstruktion heranrücken, jetzt wird es durch eine Klarsichtwand im Bühnenhintergrund angestrahlt – ohne Zweifel die telegenere Lösung für Berlins bekanntestes Logo, das Brandenburger Tor, das heute Schauplatz der ersten europäischen MTV-Awards sein wird.

Und ums bessere Bild geht es letztlich doch, wenn MTV, der Welt erfolgreichster Musiksender, sich selbst feiert. Seit Wochen schon arbeitet ein Stab von mehreren hundert (meist schlecht bezahlten) Mitarbeitern an der Inszenierung des Events, bei dem Stars Preise an Stars überreichen werden, eine Leistungsschau der Musikbranche nach dem Vorbild von Grammy und Oscar, aber erstmals von MTV Europe eigenständig ausgerichtet. 40 Bands und Einzelinterpreten sind in acht Sparten (von „Best Group“ bis „Best Cover“) nominiert, Naomi Campbell und Herbert Grönemeyer werden würdigen, ebenso Ray, Pip und Ingo aus MTVs Moderatorenriege, es gibt ein Live-Rahmenprogramm mit unter anderen Aerosmith, Eros Ramazotti und Take That. Das alles unter der Gastgeberschaft des guterhaltenen Tom Jones, dessen urbritischer Stechercharme an diesem Abend in 240 Millionen Haushalten all over the world gleichzeitig ausgestrahlt wird – „Euro-Identität“ als demonstrierte Haus- und Marktmacht?

Auf jeden Fall eine Betonung des „Standortfaktors“. Wann MTV Europe, der seit 1987 sendende Ableger des amerikanischen Viacom-Konzerns, seinen eigenen Glamour bekommen würde, war nur eine Frage der Zeit, hat der europäische Tonträger- und Werbemarkt den amerikanischen doch mittlerweile überflügelt.

Bloß: Warum nicht London, Paris, Stockholm, Rom, warum gerade Berlin? Auch hierfür gibt es zwei nüchterne Gründe: zum einen ist der deutsche Markt mit offiziell 20 Millionen Haushalten (und entsprechenden Werbeeinnahmen) der weltweit zweitgrößte, zum anderen hat MTV Europe im letzten Herbst von hier aus Konkurrenz bekommen. Der Kölner Sender Viva versucht mit aggressiven Sprüchen, deutschsprachigen Moderatoren und wachsendem Erfolg Marktsegemente für sich abzuzweigen. Einer Forsa-Umfrage zufolge ist MTV zwar fast doppelt so bekannt wie Viva, doch 49 Prozent der Zielgruppe zwischen 14 und 34 Jahren finden das einheimische Produkt (hinter dem allerdings die Konzerne Warner, Sony, EMI und Polygram stehen) inzwischen besser.

Bei MTV selbst weist man solch schnöde Überlegungen natürlich weit von sich. Berlin sei einfach ein Symbol für „freedom, opportunity and coming together“, erläutert der Präsident und creative director für Europa, Brent Hansen; die Leute dächten automatisch „Berlin – cool!“ Und Stefan Kastenmüller, Marketing-Chef, meint wie auf Verabredung, hier sei nun mal „das meiste kulturelle Movement“ vorzufinden, es handle sich um eine „megakreative Stadt – vor wie nach der Mauer“.

Das mag diejenigen erstaunen, die Berlin in den letzten Jahren eher als city of cold Frittenfett erlebt haben, eine Provinzgroßstadt, die – von der nominierten Marusha einmal abgesehen – im Musikbereich seit langem schon keinen nennenswerten Star mehr hervorgebracht hat. Mit solchen Roheindrücken hat das Pop-Berlin von MTV allerdings ohnehin nichts zu schaffen. Es ist eine mediale Komposition aus rauschenden Techno- Nächten, der Schwarzweißästhetik von Wim Wenders' romantischen Engeln in Großstadthimmeln, den jüngsten Videos von U2, in denen putzige Trabbis preußische Prachtstraßen entlangzuckeln – mit anderen Worten: ein Beispiel dafür, wie heute Images geschneidert werden, die stärker sind als das, was man vor einigen Jahren noch naiverweise „Erfahrung“ nannte. Egal, wie der Alltag sich darstellt, für MTV ist Berlin das Bild einer Metropole, in der junge Kreative sich vor der Kulisse des Brandenburger Tors unablässig jubelnd in die Arme fallen.

Deshalb ist ja auch so wichtig, daß das Gebäude Bestandteil der Inszenierung wurde – zumal so kurz nach dem fünften Jahrestag des Mauerfalls mit all seinen Bildern euphorisierter Massen. Geschickt hat MTV sich die Erlaubnis durch langfristiges Baggern auf der Bezirksebene gesichert. Gut gewaschene, durch die Schule der Clip- Ästhetik gegangene Spezialisten, darunter Anton Corbijn (verantwortlich für das fotografische Image von U2) und Produzent Ned O'Hanlon (Chef der Visualisierungsfirma „Dreamchaser Productions“) sorgen dafür, daß sich unter der „Megadome“ genannten Bühnenkuppel optisch etwas vom Mythos des historischen Moments auf Ereignis wie (Fernseh-)Zuschauer überträgt. Das Live-Publikum spielt dabei nur noch eine Statistenrolle. Kaufkarten gab es keine, die rund 2.500 handverlesenen oder durch Verlosung bestimmten Teilnehmer mußten sich verpflichten, unmittelbar vor dem Ereignis für „Proben“ zur Verfügung zu stehen. Inszenierung eines Publikums – welcome to the Megadome.

Noch vor zehn Jahren wäre diese Ornamentierung der Masse kaum auf einen breiten Konsens gestoßen. Inzwischen hat man sich an Spektakel dieser Art gewöhnt. Und die netten, fleißigen Leute vom Musikfernsehen kommen ja auch nicht als Kulturimperialisten, sondern als visionäre Pragmatiker, die allen die Hand zur Medienpartnerschaft reichen – um so mehr, als der Sender in Asien und Rußland aufgrund mangelnder Berücksichtigung der Verhältnisse vor Ort einige Schlappen hinnehmen mußte. In Berlin haben MTV und seine Botschafter es glänzend verstanden, die lokale Infrastruktur für die eigenen Zwecke zu nutzen: So wie es einen Programm-Mix speziell für europäische Bedürfnisse gibt, so dürfen bei den Awards diverse Berliner Betreiber im Rahmen einer anschließenden „Club-Tour“ zusätzlich für Partystimmung sorgen. Selbst Zitty, Berlins Stadtmagazin mit alternativer Prägung, macht mit beim Tamtam um die Verleihung: Glamour als Infrastrukturmaßnahme, die der Stadt ein paar Vorteile als „Medienstandort“ sichern soll.

Die Hintergründe für diese Rezession von Kritik in Pragmatismus sind allerdings diffuser: zum einen hat die Techno-Generation, auf die MTV zielt, längst keine Berührungsängste mehr hinsichtlich des neuen, soften Medienkapitalismus; Technik ist heute das große Subjekt, an das sich jugendliche Befreiungs- und Selbstverwirklichungsphantasien knüpfen. Zum anderen ist der traditionelle kulturkritische Diskurs mittlerweile durch Botho Strauß und Gesinnungsbrüder besetzt, die, entlang der alten Demarkationslinie Kultur/Zivilisation, gegen den Einfluß von Talkshows, Rockbands und Parlamenten mobil machen. MTV steht dagegen für kulturelle Westbindung, die Demokratie von Fernsehen und Pepsi-Cola, die – zumal nach dem Abzug der Alliierten – immer noch ein Antidot bildet gegen deutschen Kulturfundamentalismus.

Und ist es nicht wahr? Hat MTV nicht gründlich aufgeräumt mit Opas Musikfernsehen, den öden Rockpalastsendungen der Siebziger, in denen Albrecht Metzger sein „Tschörmen Telewischn praudly prisents“ ins noch unverkabelte Wohnzimmer posaunte? Hat es das Teenagerverhalten nicht rundum formatiert, modernisiert, internationalisiert – und sich ganz nebenbei noch das Image des politisch Korrekten zugelegt?

Bloß manchmal, wenn Leute wie Nirvanas Kurt Cobain sich den Kopf wegschießen – aus Überdruß daran, daß ihre Negation der Verhältnisse vom großen Vereinheitlicher MTV umstandslos geschluckt wird, wird plötzlich klar, wie komplett die Rockmusik sich zum Umschlagplatz folgenloser Rebellenposen banalisiert hat. MTV ist, was der Fall ist – auch und erst recht, wenn die Band, die wir seit Jahren unter dem furiosen Namen Rage Against The Machine kennen, heute „Beste Gruppe“ wird.