Spiegelman auf dem Laufsteg

Der Brüsseler Künstler Eran Schaerf zeigt in der Galerie Zwinger eine inszenatorische Installation aus Stuckrosetten, schlangenhaften Kabeln, Kronleuchtern, Fotos orthodoxer Juden  ■ Von Ulrich Clewing

Osman Keskin hat seine Eltern umgebracht. Mit einem Küchenmesser. Warum, weiß keiner, nicht einmal der zwanzigjährige Osman selbst. Die Keskins hatten sich eingerichtet in der Schweiz, bis zu der unerklärlichen Bluttat führte die kleine Familie – die Mutter Lehrerin, der Vater Architekt – ein gutbürgerlich unauffälliges Leben. Der Fall erregte Mitte der siebziger Jahre viel Aufsehen.

Auszüge aus dem Tagebuch, das Osman Keskin in der Haft zu schreiben begann, sind derzeit in der Kreuzberger Galerie Zwinger ausgestellt. Sie sind Teil einer erstaunlich komplexen Installation des 32jährigen Brüsseler Künstlers Eran Schaerf. Direkt daneben hängt der Auslobungstext zu einem Architekturwettbewerb. Eine schöne neue Welt wird geplant, in die sich auch diejenigen einpassen müssen, die damit nicht zurechtkommen. Die Gefahr, daß sich die BesucherInnen allzu voyeuristisch an der obszönen Kombination aus Täterpsychologie und Technokratensprache festlesen, hat Schaerf per einfachem Kunstgriff gebannt. Neben den Texten hinter Glas baumelt eine 1.000-Watt-Glühbirne. Das Licht blendet, die Spiegelung wird aggressiv, zur Qual.

Schaerf, 1962 in Tel Aviv geboren, hat in den 80er Jahren in Berlin Architektur studiert und gehört zu den interessanteren jungen Künstlern der internationalen Szene. Spätestens seit seiner Teilnahme an der documenta IX hat er den Durchbruch geschafft.

Die übrigen Bestandteile der Installation sind wild im Raum verstreut: Werbetafeln, Modefotos, Zeitschriftenständer, ein Kronleuchter, ein wie ein Bandwurm gedrehtes Stromkabel, eine Stuckrosette, eine zusammengefaltete blaue Plastikfolie, ein Videomonitor, ein aus hölzernen Paletten gezimmerter „Laufsteg“, Bilder von orthodoxen Juden an der Klagemauer. Mit traumwandlerischer Sicherheit schafft Schaerf dabei Verbindungen zwischen an sich miteinander unvereinbaren Einzelteilen und Gegenständen. Formale wie inhaltliche Korrespondenzen scheinen augenfällig, doch ihr Sinn und Zweck wird nicht immer deutlich. Sie sind, was sie sein wollen: Rätsel.

Doch gibt Schaerf an manchen Stellen Hinweise zur Lesart der Inszenierung. So liegen neben vielen anderen Dingen drei blankpolierte Metallschachteln auf dem Boden. Die eine ist bis an den Rand gefüllt mit transparenten Plastikperlen, dazwischen eine Rolle Nylonschnur. In der zweiten Schachtel sind die Perlen zu einem endlos langen Kollier aufgereiht, in der dritten befindet sich nur eine kleine Kette – eine Gebetskette, wie sie Muslime bei sich tragen. Dieser Dreisatz der verschiedenen inhaltlichen Ebenen ist Schlüssel zum Verständnis der gesamten Installation. Ihre Themen sind Tod, Emigration, Mode, schöner Wohnen – nur alles eben ungeordnet.

Ein anderes Beispiel: Am Eingang zur Galerie hängt eine graue Plastikplane schief von der Decke bis zum Boden. Sie ist bedruckt mit einer Werbung der belgischen Staatsbahnen, die anläßlich des Papstbesuchs vor zwei Jahren Sonderzüge eingesetzt hat. Die Schräge, die diese Plastikplane beschreibt, leitet über in den Laufsteg und findet gleichzeitig ihre Korrespondenz in der Art, wie das Elektrokabel des Kronleuchters von der Decke schwingt. Die Stuckrosette wiederum, durch die sich das Kabel zieht, schlägt den Bogen zu einer Darstellung in Art Spiegelmans Holocaust-Comic „Mauschwitz“. Auf dem Videobildschirm sieht man einen Film, der die Heimpräsentation von chromglitzerndem Eßgeschirr zeigt. Keine zwei Meter weiter und nur durch die Plastikplane räumlich voneinander getrennt, liegt eine dieser Schalen aus Chrom auf einer blauen Folie, darin eine Pfütze getrockneten, schwarzen Lacks.

In Schaerfs Installation verflechten sich die einzelnen Gegenstände zu einer seltsamen Harmonie, zu einem unentwirrbaren Knäuel von inhaltlichen Bezügen und formal-ästhetischen, sinnfreien Passagen. Schaerf hat keine Scheu vor der Kombination von großen Themen und Banalem. Er läßt beides gleichberechtigt nebeneinander stehen, ohne dem einen oder anderen dadurch etwas zu nehmen. Über dem Tagebuchtext von Osman Keskin hängt das Cover der belgischen Design-Zeitschrift meubles et decors, Jahrgang 62, Nummer 772, Preis: 25 Francs. Was das zu bedeuten hat? Nichts – oder alles.

Bis Ende Dezember, Di.–Fr. 14–19, Sa. 11–14 Uhr, Galerie Zwinger, Dresdener Straße 125.