Der Anfang vom Ende der DDR

Heute vor sieben Jahren überfiel ein Stasi-Kommando die Ostberliner Umweltbibliothek / Heute ist sie vor allem eine Kneipe, in der sich kaum noch jemand für die Geschichte interessiert  ■ Von Christoph Seils

Autonome Weisheiten haben auch Ostberlin längst erreicht. Wahrheiten erfährt man im Infoladen, zu deutsch in der Kneipe. Auch die Umweltbibliothek, in den achtziger Jahren Treffpunkt der DDR-Opposition, ist heute ein Infoladen. Am Regal hängen von der Interim bis zur anarchistischen zeitung alle Druckerzeugnisse, die das autonome Herz begehrt. Nichts deutet noch zwischen halb geleerten Bierflaschen und verstaubten Büchern auf die historischen Ereignisse vor sieben und vor fünf Jahren hin. Nur wenige Fotos aus Stasi-Beständen erinnern an den Wänden noch an die Zeit, als sich in der Umweltbibliothek auf der Suche nach unabhängigen Informationen die Besucher drängten. Heute drängen sich am Tresen Nachwuchsautonome. Man kennt sich.

In der Nacht vom 24. zum 25. November 1987 stürmte ein Kommando der Staatssicherheit die Räume der Umweltbibliothek in der Zionsgemeinde und verhaftete fünf Mitarbeiter der Umweltblätter. Die Aktion galt eigentlich Mitgliedern der „Initiative für Frieden und Menschenrechte“ und deren Untergrundblatt Grenzfälle, doch weil die sozialistische Technik im Trabi eines IM versagte, konnten sie der Stasi-Falle entkommen. So traf die Mielke-Truppe nur auf fünf Mitarbeiter der Umweltbibliothek. Die vervielfältigten in den Umweltblättern ebenfalls vom Wahrheitsmonopol der SED unterdrückte Nachrichten, aber mit dem Aufdruck „nur zur innerkirchlichen Information“ standen sie unter dem schützenden Dach der Kirche.

In den achtziger Jahren war in der DDR ein Netz von Oppositionsgruppen entstanden, das teils konspirativ, teils in der evangelischen Kirche über Themen wie Abrüstung, Menschenrechte oder Umweltverschmutzung diskutierte. Die Umweltbibliothek war für alle ein wichtiger Anlaufpunkt, hier gab es verbotene Literatur und verbotene Nachrichten. Jeder westliche Journalist, der etwas über die Aktivitäten der DDR- Oppisition erfahren wollte, wurde zum regelmäßigen Besucher in der Zionsgemeinde.

In allen Teilen der DDR kam es zu spontanen Protestversammlungen gegen die Verhaftungen. In der Zionskirche wurde eine Mahnwache organisiert, ein in der DDR bis dahin unerhörter Vorgang. Die internationale Empörung zwang das SED-Regime schließlich, die Festgenommenen wieder freizulassen sowie die Ermittlungsverfahren einzustellen. Die Umweltblätter als oppositionelle Nachrichtenquelle wurden DDR-weit bekannt. „Das war der Anfang vom Ende der DDR“, glaubt Wolfgang Rüddenklau, damals wie heute Mittelpunkt der Umweltbibliothek. „Die Leute begriffen, daß der Kaiser nackt ist, und gingen in immer größerer Anzahl auf die Straße, bis das Regime zwei Jahre später zusammenbrach.“

Die Heldenfeiern zum fünften Jahrestag der Wende gehen an der Umweltbibliothek vorbei. Kaum ein Journalist suchte noch den Weg in die Schliemannstraße im Prenzlauer Berg. Dort findet die Umweltbibliothek heute als Kneipe mehr Anklang denn als Archiv der DDR-Opposition. Hinter dem Tresen steht Wolfgang Rüddenklau, verkauft Getränke und erzählt Wende-Anekdoten. Etwa über den Oppositionellen, dessen Weg in den DDR-Untergrund noch am selben Abend im Stasi-Knast endete, oder über Brandenburgs heutigen Landesvater, Manfred Stolpe, der sich telefonisch verzweifelt erkundigt habe, was mal wieder in der Umweltbibliothek los sei. Doch während ganz Deutschland der Wende gedenkt, organisiert die Umweltbibliothek scheinbar demonstrativ ihr drittes anarchistisches Bildungsprogramm.

„Die Geschichte der anarchistischen Bewegung in der DDR steht auf dem Stundenplan.“ Zur anarchistischen Bewegung zählt Wolfgang Rüddenklau seit ihren Anfängen in den achtziger Jahren auch die Umweltbibliothek, auch wenn es viele Oppositionelle in der DDR offenbar nicht gemerkt hätten und sie sich nach der Wende über deren Radikalität beschwert hätten. Der historische Vortrag interessiert niemanden. Um acht ist der Infoladen leer. Früher, so erinnert sich Rüddenklau, sei der Laden bei Veranstaltungen immer voll gewesen, doch mindestens seit zwei Jahren – „oder sind es schon vier“ – lasse das Interesse für Vorträge immer mehr nach.

Mit einer halben Stunde Verspätung verirren sich schließlich doch vier, fünf Gäste in den Infoladen. Am kleinen runden Tisch trägt Andreas Graf die Ergebnisse seiner Forschungen vor. Ein interessantes Referat, das mit seinen vielen historischen Details mehr Zuhörer verdient hätte, doch den entscheidenden Nachteil hat, das Thema verfehlt zu haben.

Denn, so Graf, die anarchistische Bewegung in der DDR „wurde von der SED bereits 1948 zerschlagen“, ein Jahr vor der Gründung der DDR. Die wenigen Anarchisten, die den Nationalsozialismus überlebten, hätten sich der SED untergeordnet oder seien in Bautzen gelandet. Die kleine Runde tröstet sich schließlich mit der Erkenntnis, daß viel mehr Menschen, als sie es wüßten, Anarchisten seien, und wechselt in die lockere Plauderei. So mancher DDR-Oppositionelle, der heute ganz groß rausgekommen sei, habe sich „in der Umweltbibliothek als Anarchist geoutet“. Selbst ein ehemaliger Berliner Jugendsenator habe in der Umweltbibliothek seine anarchistische Phase durchlebt, erzählt Rüddenklau nicht ohne Stolz, dabei müßte er ihn doch eigentlich als Opportunisten und Verräter an der gemeinsamen Sache brandmarken.

Kaum mehr als 300 Menschen haben, so geht es aus Stasi-Akten hervor, in den achtziger Jahren in der DDR – ähnlich wie in der Umweltbibliothek – aktiv subversiv gearbeitet. War eine solch winzige Minderheit in der Lage, das SED- Regime aus den Angeln zu heben? Oder waren es nicht doch die Ausreiser und Botschaftsbesetzer, die einzige wirkliche Massenbewegung der DDR – die letztlich das Ende der DDR herbeiführten. Auf die Ausreisebewegung sind die Leute von der Umweltbibliothek auch heute noch nicht gut zu sprechen.

Viele Ausreisewillige hätten die DDR-Opposition nur als „Trittbrett mißbraucht“ und für den Preis der Ausreise ehemalige „Mitstreiter verraten“. Doch neben der verständlichen Erbitterung nimmt man hier noch immer übel, daß die DDR-Bürger der basisdemokratischen Gesellschaft den westlichen Wohlstand vorzogen. Verbittert ist man auch, daß ausgerechnet die PDS ihren Platz in der neuen Gesellschaft findet, während viele, die von der SED unterdrückt wurden, keinen Weg aus ihrer Nische finden.

„Die Opposition hätte die Macht fordern und übernehmen müssen“, so trauert Wolfgang Rüddenklau den verpaßten Chancen nach, dann hätte es zum Ausverkauf der DDR durch Modrow und Co. eine Alternative gegeben. „Unser größter Fehler war, daß wir zum Beispiel nicht die Redaktion des Neuen Deutschland besetzt haben.“ Doch alles kam, wie wir wissen, ganz anders, und so gibt die Umweltbibliothek statt einer anarchistischen Tageszeitung monatlich den Telegraph heraus. Seit nunmehr fünf Jahren kämpft der Nachfolger der Umweltblätter ums Überleben, aber es gibt ihn immer noch, allen verfrühten Nachrufen zum Trotz. Der Telegraph hat als „Alternative zu den Massenblättern der Bewußtseinsindustrie“ zu den unterdrückten Nachrichten zurückgefunden. „Wir waren“, so Rüddenklau, „in der DDR eine kleine marginalisierte Randgruppe und sind es heute wieder.“