■ Dokumentation eines Forderungskatalogs: „Die Polizei muß ihren Schutzauftrag uneingeschränkt erfüllen!“
: Leib und Leben

Nach dem bislang fürchterlichsten rechtsextremistischen Mordanschlag in Deutschland, dem Brand von Solingen vom 29.5.93, war eine trügerische Ruhe eingekehrt. Seit einigen Wochen nun ist ein erneuter Anstieg rechter Überfälle zu beobachten. Immer neue Orte müssen auf der Karte menschenverachtender Gewalttaten eingetragen werden: Berlin, Neuperlach, Ludwigshafen, Tübingen, Stockach, Northeim, Herford, Magdeburg, Demmin, Sprockhövel. Das ist die Bilanz von zehn beliebig gewählten Tagen im Herbst 1994.

Die gesellschaftlichen Ursachen von Rechtsextremismus und Rassismus sind der Polizei nicht zugänglich; sie ist für die Lösung dieser Probleme die falsche Institution. Von der Polizei muß jedoch erwartet werden, daß sie ihre elementare Aufgabe, Leib und Leben von Menschen zu schützen, mit Nachdruck erfüllt. Daß sie hierzu in allen Fällen auch bereit ist, kann leider nicht grundsätzlich vorausgesetzt werden.

Schutzauftrag erfüllen

a. Wohnheime von Asylbewerbern sind so auszustatten, daß sie direkten Angriffen kurzfristig standhalten können. Hierzu gehört zum Beispiel eine bruch- und schußfeste Verglasung der Fenster. Die Unterkünfte sind mit technischen Anlagen zu versehen, die eine rasche Information der Polizei ermöglichen, wie dies in einigen Bundesländern bereits der Fall ist.

b. Wohnungen und Gewerberäume ausländischer MitbürgerInnen können erfahrungsgemäß ebenso zu bevorzugten Objekten rechtsradikaler Gewalt werden. Hinweisen aus der Bevölkerung auf rechtsradikale Aktivitäten und/oder Übergriffe in der Nachbarschaft muß konsequenter nachgegangen werden. Ein solches sozialverträgliches Konzept, daß auf gegenseitiger Unterstützung beruht, kann zur frühzeitigen Entdeckung von Anschlägen oder Angriffen führen und potentielle Straftäter abschrecken.

c. Ausländerbeauftragte bei der Polizei sind zu benennen. Im Rahmen der oben genannten Forderungen käme ihnen zum Beispiel die Funktion eines/einer Koordinators/Koordinatorin zu. Auf ihrer Sitzung am 20.11.92 hat die Innenministerkonferenz einen Beschluß zur „Bestellung von Ansprechpartnern für Ausländer und Polizeidienststellen, in deren Dienstbezirken sich Asylbewerber- oder Ausländerwohnheime befinden, (...)“ gefaßt. Geschehen ist nach zwei Jahren nahezu nichts.

d. Der Schutz öffentlicher Verkehrsmittel obliegt in erster Linie dem jeweiligen Betreiber. Unabhängig hiervon ist die Polizei bei akuten Gefahrenlagen ebenfalls verpflichtet, die Sicherheit zu gewährleisten. Bundesgrenzschutz und Landespolizeien müssen durch ad-hoc-Erhöhung ihrer Präsenz und Bereithalten von Eingreifkräften insbesondere zu Nachtzeiten und an besonders gefährdeten Orten gewährleisten.

e. Der Schutz des menschlichen Lebens hat Vorrang vor allen anderen Rechtsgütern. Angesichts einer Polizeidichte, die zu den höchsten der Welt zählt (in Schleswig-Holstein ein Polizist je 308 Einwohner, in Brandenburg 1:271, in Mecklenburg-Vorpommern 1:267, in Berlin 1:107, in Nordrhein-Westfalen 1:333), ist die Ausdehnung und Intensivierung des geforderten Streifendienstes ohne personelle Verstärkung oder Einstellung mangelhaft ausgebildeter Hilfskräfte realisierbar. Nötig ist vielmehr der politische Wille, polizeiliche Tätigkeiten anders zu gewichten. So bietet sich (langfristig) unter anderem an, Bagatelldelikte zu entkriminalisieren (zum Beispiel im Bereich der Eigentums-, Verkehrs- oder Btm.-Delikte), wie dies von vielen Fachleuten innerhalb und außerhalb der Polizei bereits seit längerem gefordert wird.

Nichtdeutsche in Polizeidienst und -ausbildung

a. Die verstärkte Einstellung ausländischer Mitbürger in den Polizeidienst ist geboten und mittelfristig nicht zu umgehen. Das gebietet schon das Recht der nichtdeutschen Bevölkerung auf Teilhabe am gesamten öffentlichen Leben. Derzeit kann hiervon noch keine Rede sein. Die aktuellen Ausbildungszahlen (Stand Mitte Oktober 1994) sehen wie folgt aus:

Baden-Württemberg 25, Bayern 1, Berlin 8, Mecklenburg-Vorpommern 0, Niedersachsen 1, Nordrhein-Westfalen 5, Rheinland- Pfalz 8, Saarland 1, Sachsen 1, Sachsen-Anhalt 0, Schleswig-Holstein 2, Thüringen 0.

Zu dieser dürftigen Bilanz kommt hinzu, daß die angehenden Polizisten in den meisten Fällen spätestens bei Beendigung der Ausbildung und endgültigem Eintritt in die Polizei die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen müssen. Es muß generell möglich sein, auch Polizeibeamte mit doppelter Staatsbürgerschaft zu beschäftigen. Hierzu muß das geltende Beamtenrecht reformiert werden. Eine solche Öffnung böte eine doppelte Chance. Zum einen ist es nichtdeutschen Beamten aufgrund ihrer Sprach- und Kulturkenntnisse eher möglich, Kontakt (und Vertrauen) zur ausländischen Bevölkerung zu gewinnen. Zum anderen besteht dadurch die Möglichkeit, den Vorurteilen und der Fremdenfeindlichkeit auch innerhalb der Polizei, wie sie gerade in der letzten Zeit in erschreckendem Maße wieder sichtbar geworden ist, etwas entgegenzusetzen und (mittelfristig) aufzubrechen.

b. Zum Abbau von latenter und offener Ausländerfeindlichkeit der Polizei sollten zudem Ausländer und Ausländervereinigungen stärker in die Ausbildung einbezogen werden. Solche Kontakte dürfen keine Alibifunktion erhalten. Auch nach der Ausbildungsphase ist der Kontakt zwischen Polizei und nichtdeutscher Bevölkerung beizubehalten, damit sich bei den Polizisten nicht das Zerrbild des Ausländers nur als Opfer oder vor allem nur als Täter verfestigt.

c. Rechtsradikales und rassistisches Verhalten sowie Übergriffe von Polizeibeamten auf Bürger sind disziplinarisch konsequent zu ahnden. Bei schwerwiegenden Vorkommnissen oder im Wiederholungsfall müssen die Beamten aus Arbeitsbereichen mit Publikumskontakt herausgenommen und mit Aufgaben im Innendienst betraut werden, wenn nicht gar die Entlassung zu betreiben ist.

Kontrolle bei der Polizei

Will die Polizei das Vertrauen der ausländischen Bevölkerung gewinnen, so liegt es in ihrem eigenen Interesse, rassistischen Übergriffen von Polizeibeamten wirksam entgegenzutreten. Das gegenwärtige System zur Aufklärung hat sich weitgehend als ungeeignet erwiesen:

– Die Opfer polizeilicher Willkür haben bei einer Anzeigeerstattung im Regelfall mit einer Gegenanzeige der betroffenen Polizisten zu rechnen, die im Regelfall vor einem eventuellen Verfahren gegen die Beamten durchgeführt wird und somit präjudizierende Wirkung erhält.

– Im Gegensatz zu den genannten Verfahren enden solche gegen beschuldigte Polizeibeamte (sofern sie überhaupt eröffnet werden) in etwa 90 Prozent aller Fälle mit Einstellung oder einem Freispruch. Eine „stille“ Übereinstimmung zwischen Justiz und Polizei muß somit gemutmaßt werden. Zudem decken sich Polizisten gegenseitig.

a. Geschaffen werden müßte darüber hinaus die Stelle eines/einerPolizeibeauftragten, vergleichbar mit der Funktion des Wehr- und/ oder Datenschutzbeauftragten. Polizeibeauftragte sollen es Polizeibeamten ermöglichen, vertraulich und ohne sich gegebenenfalls dem Druck von Kollegen oder Vorgesetzten aussetzen zu müssen, Straftaten anzuzeigen. Um Vertrauen zu schaffen und ihrer Aufgabe tatsächlich sachgerecht nachkommen zu können, müßten Polizeibeauftragte somit an das jeweilige Länderparlament angebunden (und vortragsberechtigt) sein. Desweiteren dürfen sie – obgleich mit einem uneingeschränkten Akteneinsichts- und Zutrittsrecht ausgestattet – nicht der polizeilichen Unterstellungs- und Befehlshierarchie unterworfen sein.

b. Polizeiliche Beschwerde- und Vermittlungsinstanzen sind einzurichten beziehungsweise auszuweiten. Sie müssen über ausreichende Ermittlungsbefugnisse innerhalb der Polizei verfügen und sollen im Beschwerdebereich geringfügiger Klagen (Unhöflichkeiten, Nichtbefassung mit Anzeigen et cetera) einen außergerichtlichen Ausgleich zwischen Bürger und Polizei suchen. Eine eventuelle Zuordnung zum Polizeibeauftragten ist zu prüfen.

Schluß mit amtlichen Diskriminierungen

Die polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) diskriminiert Ausländer. Die jährlich vorgelegten Kriminalstatistiken bei Bund und Ländern weisen ausländische Tatverdächtige gesondert aus. Kriminalstatistiken sind jedoch ein internes polizeiliches Hilfsmittel. In der politischen Auseinandersetzung ist eine Unterteilung in deutsche und nichtdeutsche Täter lediglich dazu geeignet, Fremdenfeindlichkeit zu schüren. Die politische Präsentation der PKS verantwortungsbewußt zu ändern, wäre ein Minimalbeitrag der Innenminister, um ausländerfeindlichen Stimmen nicht behördlicherseits weitere Nahrung zu geben.

Bundesarbeitsgemeinschaft „Kritische Polizisten und Polizistinnen“, Institut für Bürgerrechte & öffentliche Sicherheit e.V. und Bürgerrechte & Polizei/CILIP