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■ Die Orthographie-Konferenz hat gesprochen: Ein weiteres Beispiel gemäßigter ReformLaß das daß

„Wer bei Rhythmus auch nur ein h vergißt, wird in dieser Zeitung keinen Musikartikel lancieren“ – diese vom damaligen Musikredakteur der taz vor Jahren herausgegebene und seitdem getreulich befolgte Leitlinie der redaktionellen Kulturarbeit wird sich künftig nicht mehr aufrechterhalten lassen. Die Beschlüsse der großen Orthographie-Konferenz des „deutschsprachigen Raumes“ in Wien öffnen künftig dem zwar taktkundigen, aber mit den Feinheiten der Transkription griechischer Konsonanten nicht vertrauten Musikfreak Tür und Tor unseres edelsten Zeitungsteils. Der oder die BanausIn darf künftig auf den Kulturseiten vom Rytmus handeln und damit sogar noch über die (sowieso bevorzugte) anglo-amerikanisch-kulturimperialistische Rechtschreibung hinausgehen.

Wer aber fürchtete, die künftig geltende Orthographie werde unseren Fremdwörtern das geheimnisvolle Flair ihrer Herkunft nehmen; wer argwöhnte, wir befänden uns bereits auf der abschüssigen Bahn zur phonetischen Schreibweise, der die Slawen verfallen sind (jeans gleich dzins) – er kann aufatmen. „Als Ergebnis jahrzehntelanger Diskussion“, versichert uns Herr Fritz Rosenberger vom österreichischen Unterrichtsministerium, „ist keine Revolution, sondern eine sanfte Reform herausgekommen.“ Ein dem Zeitgeist verpflichteter Kompromiß! Nach wie vor ist es uns nicht erlaubt, Scharping als Dubel Kohls zu verunglimpfen, krumme Turen des letzteren anzuprangern oder zum Ausgleich Joschkas Siluette zu bewundern. Niemand aber kann uns daran hindern, jetzt und künftig die rot-grüne Polonäse herbeizuschreiben. Auch dem Leser hilft die gemäßigte Reform. Er darf „ab Wien“ ein h einsparen und Kommentare wie diesen astmatisch nennen!

Der Geist des Kompromisses glättete nicht nur den Streit um Trennungen und Zeichensetzungen (der Großangriff der kleinschreiber war eh längst abgewehrt); er machte auch vor einem Heiligtum der deutschen Orthographie nicht halt, dem seit der Berliner Sprachkonferenz von 1901 verbindlichen ß. Hasserfüllt müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass künftig nach kurzen Vokalen das ß durch das doppelte s ersetzt werden soll. Aber diese Niederlage enthält den Keim künftigen Triumphs. Indem wir uns der vorgängigen Anti-ß-Entscheidung der Eidgenossen beugen, bereiten wir das Terrain für die Wiedereingliederung der von der Alleinherrschaft unzähliger Dialekte bedrohten deutschsprachigen Schweiz in den größeren deutschen Sprachraum. Christian Semler

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