„Wir trauern um ein Opfer rechter Gewalt“

■ Mit einem Schweigemarsch gedachten Tausende des getöteten Michael Gäbler

Zittau (taz) – Mittwochabend in Zittau. Am Marktbrunnen warten einige Jugendliche, sie halten ein schwarzes Transparent, einige tragen Blumengebinde. Immer mehr Menschen kommen hinzu, Autos halten; sie tragen Trauerflor. Innerhalb weniger Minuten füllt sich der weite Marktplatz der kleinen sächsischen Stadt im Dreiländereck. „Wir trauern um Michael, ein Opfer rechter Gewalt!“ steht auf dem Tuch, das die Jugendlichen nun entrollen. Der Pfarrer und Stadtrat von Bündnis 90/Die Grünen, Lothar Alisch, bringt die Nachricht, daß der Tatverdächtige Skinhead am Nachmittag erneut vorläufig festgenommen worden ist. Tino H. soll dem Haftrichter vorgeführt werden. Die Umstehenden nicken erleichtert, endlich ist geschehen, was alle hier erwartet haben.

Am Abend zuvor konnten es die jungen Leute im Offenen Jugendtreff „Rosa“ kaum fassen. Der 17jährige Tino H. aus Waltersdorf war wieder auf freien Fuß gesetzt worden. Er soll Michael Gäbler nach Polizeiangaben bei einer „Kabbelei“ vor dem Jugendhaus „in Notwehr“ erstochen haben. Mehrere ZeugInnen erklärten, sie seien bisher gar nicht vernommen worden, könnten aber bestätigen, daß der Skinhead Tino H. die Technoparty in ihrem Haus durch nazistische Parolen gestört habe; zudem habe er die Barfrau und Gäste belästigt. Daraufhin sei er von der Ordnungsgruppe „gewaltfrei“ des Hauses verwiesen worden. Draußen kam es dann zum Streit, der mit den für Michael Gäbler tödlichen Stichen endete.

Die Tat hatte einen politischen Hintergrund

Die Staatsanwaltschaft hat jetzt ermittelt, daß Michael Gäbler in den Rücken, in Herz und Leber getroffen wurde. Außerdem meint die Anklagebehörde mittlerweile, ebenso wie die FreundInnen des Opfers, daß es einen politischen Hintergrund für die Tat gegeben hat. Eine „Notwehrlage“ schließt sie jedoch noch nicht aus.

Etwa 1.000 formieren sich am Mittwochabend zum Schweigemarsch. Hinter dem Transparent gehen Michaels Eltern, seine Freundin, mit der er bald in die gemeinsame Wohnung ziehen wollte, seine Schwester, Freunde aus dem Heimatort Ebersbach, die BewohnerInnen des Offenen Jugendhauses „Rosa“, ein sehr alter Mann mit Blumen. Vor dem Rathaus verweilt der Zug in einer Schweigeminute.

Bürgermeister Jürgen Kloß (CDU) sitzt oben in seinem Büro, er wird sich heute und in den folgenden Tagen so wenig zu der Tat äußern wie der in diesem Wahlkreis mit über 60 Prozent direkt gewählte sächsische Innenminister Heinz Eggert. Der Trauermarsch zieht weiter durch die engen Straßen der Innenstadt bis zur Rosa- Luxemburg-Straße. Dort, vor einem Wohnhaus, brennen seit der Tatnacht die Kerzen, liegen frische Blumen.

Gruppen stehen beieinander, junge Menschen, manche mit ihren Eltern und viele aus der Elterngeneration. Leise Worte, behutsame Versuche, die Sprache wiederzufinden. Am Abend spielt im Café „Emil und die Detektive“ die britische Band „Behind the Sofa“. Die Gruppe war nach Zittau gekommen für eine Musiknacht mit viel Spaß. Sie ist hiergeblieben, um dieses Benefizkonzert zu geben; das Eintrittsgeld soll für die Beisetzung von Michael Gäbler gespendet werden.

An den Tischen wird lange gesprochen über das Klima in der Stadt, über Hintergründe einer Situation, die vom Bürgermeister als „sich allgemein ausbreitende Gewalt“ verklärt wird. Ein Mann um Mitte 20 erinnert sich, daß stadtbekannte Rechtsradikale ihn am 29. Oktober von einer Brücke in die Mandau stürzen wollten. Passanten eilten ihm zu Hilfe, der Sturz hätte tödlich enden können. In der Nacht vom 4. November wurden mehrere Jugendklubs überfallen, mitten auf der Straße ein Behinderter mit seinen Krücken verprügelt. Einer der Haupttäter, auch er bekannt als Rechtsradikaler, läuft trotz angeblicher Polizeifahndung frei herum. Thomas Pilz vom Multikulturellen Zentrum der Stadt: „Es hat hier in den vergangenen Jahren viele Bemühungen gegeben, hinter der rechtsextremistisch motivierten Gewalt den einzelnen jungen Menschen zu sehen und ihm zu helfen. Aber darüber wurde versäumt, sich mit dem Rechtsextremismus politisch auseinanderzusetzen.“ Detlef Krell