Freiwillig in die Wüste

Der Weg ist das Ziel: Auf den Spuren der Geschichte im australischen Outback  ■ Von Harald Stuckmann

Am verrücktesten sind die Deutschen, die schrecken vor gar nichts zurück! Kein Australier fährt im Sommer freiwillig durch die Wüste. Und selbst den Japanern wird es ab Oktober zu warm, aber Deutsche – und Schweizer – lassen sich auch durch die größte Hitze nicht davon abhalten.“ Marc muß selber lachen über den provokanten Unterton seiner Rede. „Aber ernsthaft, oft fahren die mit völlig untauglichen Autos durch die Gegend, und spätestens mit dem zweiten Platten stehen sie dann da und wundern sich, daß ihre lächerlichen zwei Liter Wasservorrat nach einer Stunde aufgebraucht sind.“

Wir sitzen in William Creek vor dem William Creek Hotel und trinken Bier aus Dosen, die in Styroporüberzügen stecken, damit der letzte Schluck genauso eiskalt ist wie der erste. Marc arbeitet im Bereich Environmental Research für eine der großen Minengesellschaften, die auch in den entlegensten Gebieten des Landes die Erde nach Bodenschätzen umgraben. Australien hat ein durchaus ausgeprägtes Umweltbewußtsein, und die Auswirkungen großindustrieller Anlagen auf Flora und Fauna werden sehr genau beobachtet. Wie meistens zum Wochenende war er mit ein paar Freunden und Freundinnen aus dem Kollegenkreis nach William Creek gefahren, ein 30-Kilometer-Trip mit dem „Four-Wheeler“ quer durch den Busch, um bei kaltem Bier, Musikbox und Spielautomat an einer richtigen Theke in einem richtigen Hotel an einer richtigen Straße ein paar andere Gesichter zu sehen. So unterschiedlich sind die Perspektiven: Was dem einen Abenteuer und Outback pur ist, ist für den anderen wieder der erste Hauch von Zivilisation.

Vor dem Hotel steht ein Schild, auf dem die Einwohnerzahl von William Creek mit „2“ angegeben wird. Das Schild hat Chris Brown, der Wirt, aufgestellt, um scherzhaft seine Wichtigkeit und die seiner Frau Heather zu unterstreichen. Zieht man die Ortsgrenze etwas weiter als nur um das Hotel, kommt man der Wahrheit näher: Die offizielle Einwohnerzahl ist sieben.

Die „richtige Straße“, an der William Creek liegt, ist der Oodnadatta Track und je nachdem eine Erd-, Sand- oder Schotterpiste, in jedem Fall unbefestigt. Stellt man sich Australien als das Zifferblatt einer Uhr vor, dann befindet sich Adelaide an der Südküste bei fünf Uhr, Alice Springs genau in der Mitte, wo sich die Zeiger treffen, und William Creek in etwa auf halber Strecke dazwischen. Der Track beginnt am unteren Ende in Marree, südlich des Lake Eyre, und zieht sich in nordwestliche Richtung über William Creek und Oodnadatta nach Marla, wo er auf den Stuart Highway trifft, die Hauptverkehrsverbindung in Süd-Nord- Richtung durch das Innere Australiens.

Der historische Hintergrund des Oodnadatta Tracks ist eng vebunden mit der Geschichte der Erschließung Zentralaustraliens. Der Forscher John Stuart unternahm in den beginnenden sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts insgesamt drei Versuche, den australischen Kontinent von Süden nach Norden zu durchqueren, bis ihm das beim letzten Mal gelang. Vor allem wegen der geographischen Gegebenheiten und weil die Wasserstellen so lagen, nahm er in den südlichen Landesteilen jedesmal denselben Weg. Diese Strecke war daher als einzige dokumentiert und kartographiert, als rund zehn Jahre später mit dem Bau der „Overland Telegraph Line“ quer durch Australien begonnen wurde.

Nochmals zehn Jahre später wurde auch der erste Teil der „Central Australian Railway“ eröffnet. Er verlief weitgehend parallel zur Telegraphenlinie und endete im Norden in einer neu gegründeten Siedlung, die man Oodnadatta nannte. Hier wurden die mit der Bahn gebrachten Güter zum Weitertransport nach Alice Springs auf Kamele verladen.

Da es bis dahin in Australien keine Kamele gab, importierte man sie aus Afghanistan. Und weil man mit der „Bedienung“ dieser Tiere keine Erfahrung hatte, holte man sich die Treiber gleich mit. Der zeitweise große afghanische Bevölkerungsanteil in Oodnadatta und in Marree führte dazu, daß diese Bahnlinie „The Ghan“ genannt wurde.

Die seltenen, aber schweren Regenfälle ließen selbst über größere Entfernungen Flüsse und Bäche so stark ansteigen, daß die Schienen immer wieder unterspült oder überflutet wurden. Teure und aufwendige Reparaturarbeiten waren die Folge. So wurde eine zweite Bahnlinie nach Alice Springs gebaut, die weiter westlich parallel zum Stuart Highway verläuft. Mit deren Inbetriebnahme 1982 fuhr „The Old Ghan“ zum letzten Mal.

Die Straße als Versorgungsweg für Ort und Bahn hatte keine Funktion mehr, die großen, aber wenigen Farmen am Rande des Tracks hätten dessen aufwendigen Unterhalt nicht gerechtfertigt – zumal viele Farmen heute über einen Airstrip, also eine behelfsmäßige Start-und-Lande-Bahn, und oft über eigene Flugzeuge verfügen.

Die Rettung zeichnet sich von ganz anderer Seite ab: Touristen, Abenteurer, Outbackfanatiker und Four-Wheel-Driver galten früher eher als lästiges Übel oder bestenfalls als Zusatzgeschäft. Mittlerweile sind sie es, die erheblich zum wirtschaftlichen Überleben des Oodnadatta Tracks beitragen. Bis vor wenigen Jahren war auch die direkte Straße von Adelaide über Alice Springs nach Darwin, der Stuart Highway, eine stellenweise hundsmiserable Piste, die allen, die es so wollten oder auch nicht, genügend Schwierigkeiten und Abenteuer bot. Seitdem diese Strecke vollständig erneuert und durchgehend geteert wurde, ist der Oodnadatta Track eine echte Alternative.

Zu den grandiosen Landschaften in Reichweite des Oodnadatta Tracks gehört Lake Eyre. Dieser mit 9.300 Quadratkilometern größte See Australiens ist ein Salzsee und war in diesem Jahrhundert erst dreimal mit Wasser gefüllt. Sein Einzugsbereich umfaßt zwar ungefähr ein Sechstel des australischen Kontinents – Lake Eyre ist mit minus 16 Metern auch der tiefste Punkt des Landes –, die Strecken, die das Wasser in den Zuläufen zurücklegen muß, sind aber so groß, daß es wegen der Verdunstung nicht mehr im Lake Eyre ankommt. Die Salzschicht ist bis zu fünf Meter dick.

Von Marree aus führt uns eine Stichstraße zum Goyder Channel, der Verbindung zwischen dem nördlichen und dem südlichen Teil des Sees. Der Boden ist hier über weite Strecken rot und unbewachsen. Die Luft flimmert vor Hitze.

Nach Abstellen des Motors breitet sich Totensille aus, nur durchbrochen vom Summen der Myriaden von Schmeißfliegen, die das einzig Lebendige hier zu sein scheinen. Auf dem Rückweg Erleichterungen: Erleichterung über das Anspringen und Rauh-aber- herzlich-Genagel des Diesels, Erleichterung durch den Fahrtwind, der Hitze mäßigt und Fliegen vertreibt, Erleichterung mit jedem Meter, der uns wieder anderen Menschen näher bringt.

William Creek am nächsten Morgen: Der Frühstückskaffee aus dem Automaten ist so heiß, daß er jedem amerikanischen Schnellimbiß zu Ruhm verhelfen würde. Ort und Hotelbar sind wie leergefegt. Chris lehnt auf der Theke und schaut im Fernsehen Cricket. Dank Satellitentechnik sind stationäre Empfangsanlagen im Outback kaum schlechter dran als der Fernsehzuschauer in Sydney.

Irgendwann haben Chris und Heather angefangen, das Innere der Bar mit Souvenirs von ihren Gästen zu schmücken. Die Wände sind gespickt mit Visitenkarten und Aufklebern, die Decke vollgehängt mit grußbeschrifteten T-Shirts und Mützen. Deutsche und Schweizer Adressen sind in der Mehrzahl. Erstaunlich, welche Mengen von Rotary-Austauschstudenten sich in Australien befinden und über eigene Visitenkarten verfügen – ganz zu schweigen von der Zahl, die davon bereits im William Creek Hotel waren. An der Decke hängt ein T-Shirt der Internatsschule Birklehof. Nach-Abitur-Fahrten scheinen heute auch andere Dimensionen zu haben als vor 25 Jahren.

In der Mitte des Raums, unter einem Balken befestigt, ein Büstenhalter, so groß, daß die Abkürzung der Sache nicht gerecht würde. Den hat Chris selbst aufgehängt. Jeder, der Visitenkarte oder Aufkleber zurückläßt, muß zwei Dollar in die Körbchen dieses riesigen Wäschestücks werfen. Gesammelt wird für RFDS, den „Royal Flying Doctor Service“, eine Institution zur medizinischen Notfallversorgung des Outback, die in Australien fast für wichtiger gehalten wird als die Kirche.

William Creek ist kaum hinter uns verschwunden, hat uns die Monotonie dieser Straße gefangen. Sogenannte „washouts“ unterbrechen hin und wieder die Gleichförmigkeit des Fahrens. Wenn es – was es ja meistens tut – nicht regnet oder geregnet hat, dann sind all diese Flußläufe, Bachbetten und sonstige Wasserrinnen trocken, aber dafür um so tückischer. Wohl dem, der es nach einem unfreiwilligen Satz an die Decke seines Gefährts nur im Kopf spürte und dem nicht gebrochene Federn seiner zügigen Fahrt ein Ende setzten.

Hinter einer Kurve taucht wie aus dem Nichts ein breites Flußbett auf, überspannt von einer riesigen Eisenbahnbrücke. Die ersten Begegnungen mit Hinterlassenschaften aus der Zeit von Ghan Railway und Telegraph Overland Line in der Gegend von Marree haben für den historisch nicht vorbereiteten Reisenden noch mehr zufälligen Charakter. Je weiter er sich aber auf dem Oodnadatta Track in Richtung Norden bewegt, um so mehr werden solche Überbleibsel vergangener Eisenbahntage nicht nur zu ständigen Begleitern, sondern auch zur Attraktion.

Eines dieser imposanten Bauwerke ist die Algebuckina Railway Bridge über den Neales River, gute 50 Kilometer, bevor der Track vom Süden her Oodnadatta erreicht. Obwohl nur zwölf Meter über der tiefsten Stelle des Flusses, ist sie mit beinahe 600 Meter Länge auch heute noch die längste Brücke Südaustraliens.

Noch vor Algebuckina passiert man Edwards Creek oder das, was davon übrig ist. Weithin sichtbar ist ein Koloß von vierbeinigem Wassertank, alles um sich herum Aufrechtstehende hoch überragend. Aber auch hier hat sich die Farbe von technischem Schwarzgrau in das Rotbraun der Oxydation verwandelt. Der Platz ist übersät mit den Trümmern der paar Häuser, die hier mal standen. Wände, in Leichtbauweise konstruiert und nur aus beplankten Balken bestehend, wurden vom Wind als Ganzes umgeblasen und liegen jetzt in alle vier Richtungen ausgebreitet. Wie Faller-Modellhäuschen, bei denen der Leim vergessen wurde.

Es ist ein Sonntagnachmittag, als wir Oodnadatta erreichen. Gleich hinter dem Ortseingang links liegt Lynnie und Adam Plates „Pink Roadhouse“. Es heißt so, weil es so ist: pink! Der gesamte Bau erstrahlt in schrillem Rosa, und selbst vor Zapfsäule und Telefonzelle hat der Farbeimer nicht halt gemacht. Geboten wird wieder alles: Tankstelle, Abschleppdienst und Werkstatt. Bank, Postamt und Supermarkt. Nicht zu vergessen: Pink Roadhouse ist „Home of the famous Oodnaburger“!