Niemands Buch

Unaushaltbare Vergeblichkeit – Wie Peter Handkes neues Buch unter die Literaturkritiker fiel  ■ Von Willi Winkler

Eine berühmte, eine traurige Geschichte. Jahre hatte Hermann Broch an seinem Hauptwerk, am „Tod des Vergil“, gearbeitet, die Verhaftung durch die Nazis, die Flucht aus Österreich, die Emigration nach Amerika, der Zweite Weltkrieg: Alles war in den Roman eingegangen, der im Sommer 1945 endlich erschien. Broch erreichte „das höchste Ziel aller amerikanischen Schreibenden“: Die New York Times Review besprach den „Tod des Vergil“ auf der ersten Seite. Doch an dem Wochenende, als die lobende Kritik erschien, streikten die Zeitungsträger, die Rezension wurde nie ausgeliefert.

Peter Handke hatte da entschieden mehr Glück, er kam in den Genuß eines rezensorischen Overkill. Sieben Jahre sind vergangen seit seinem letzten richtigen Buch „Nachmittag eines Schriftstellers“, sieben Jahre, in denen er in der Welt herumwanderte, ein paar Theaterstücke herausgab und drei „Versuche“, die vor allem vom Nichtschreiben handelten. Sechshundert, dann tausend Seiten sollte „Mein Jahr in der Niemandsbucht“ zählen. Keiner bekam Fahnen zu sehen, es gab keine Vorausexemplare, nur das fertige Buch am Montag, dem 31. Oktober.

Literaturkritik ist sonst harte Arbeit. Ein Buch will nicht bloß gelesen, es will auch noch bedacht sein. Gerechtigkeit vor allem soll ihm widerfahren. Aber während jedes Jahr mehr Bücher gedruckt und verkauft werden, verkommt die Literaturkritik immer weiter. Angespornt vom literarischen Kaffeeklatsch im Fernsehen genügt es auch den minderen Brüdern, Beriechen und Betasten eines Buches als Kritik desselben auszugeben.

Sie erinnern an die Affen in Stanley Kubricks Film „2001: Odyssee im Weltraum“, zwischen denen sich plötzlich ein schwarzer Monolith erhebt. Was sollen sie nur anfangen mit ihm? Während die Affen in ihrem Unverständnis nur staunen, rezensiert die Kritik, was sie nicht versteht.

Der schnellste Kritiker war Jürgen Busche von der Süddeutschen Zeitung. Er reiste nach Frankfurt und stand nach Verlagsauskunft am 31. Oktober morgens um neun im Zimmer des zuständigen Lektors, um sich „Mein Jahr in der Niemandsbucht“ aushändigen zu lassen. Anschließend habe Busche Tag und Nacht gelesen, wie einem Wolfgang Werth, der Literaturredakteur der SZ, gern versichert. Das mußte er auch, denn am Mittwochabend, etwa 56 Stunden später, hatte die Rezension in Druck zu gehen. Ob Busche das Buch tatsächlich in dieser kurzen Zeit gelesen hat, ist unerheblich. Am 5. November jedenfalls versicherte eine rote Zeile auf der Titelseite der SZ, „Peter Handkes neuer Roman“ sei „ein literarisches Ereignis“.

Im Übereifer versäumte es der Rezensent zwar, diese Erkenntnis zu belegen, aber sie erfüllte auch so ihren Zweck, denn am 21. November erschien sie bereits in einer Anzeige des Suhrkamp-Verlags in der Frankfurter Allgemeinen. Wichtiger als jede Form von Analyse ist nämlich die kleine Gefälligkeit für die Presseabteilung. Je zitabler die Kritik, desto besser. Der Satz auf der Banderole erspart nebenher auch die Mühe des Nachdenkens. Das nennt man nicht Korruption, sondern Literaturbetrieb.

Doch auch der gewöhnliche Leser muß nicht darben. Er bekommt so schwerbesoffene Sätze wie diesen vorgesetzt: „Dieser Roman vom Lesen, Zuschauen und Beschreiben erzählt die Geschichte der Entfernung zwischen einem Anfang und dem, was Anfang nicht mehr ist.“ Oder diesen: „Nicht, was einer sich vornimmt und im Augenblick des Entschlusses denkt, wird aufgeblättert, sondern das Werden danach.“ „Was hat das zu bedeuten?“ fragt Busche sich und uns und vertröstet: „Das ist einstweilen schwer zu sagen.“ Das mag sein, aber es hindert Busche nicht am Weiterschwallen: „Wo die Angst, auf einen solchen Weg, in ein Programm zu geraten, unaushaltbar ist, kommt es zu einer Verwandlung.“ Unaushaltbar wie ein solcher Text, der nur trunken ist vom Siegesrausch.

Wachträumer und Pilzesser

Es war Samstag, es wurde Sonntag, dann Montag, der 7. November, und mit ihm kam der Spiegel und der nächste Kritiker, der behauptete, tausend großzügig gesetzte Seiten gelesen zu haben. Auch Volker Hage muß Tag und Nacht durchgepowert haben, um spätestens am Freitag davor sein Manuskript in Satz geben zu können. Der Spiegel hält weiter in Treue fest zu seinem Meisterdenker Botho Strauß – der folglich den Maßstab für Handke: „Beide sind, wie es sich gehört, umstritten“, andererseits sei „beider Werk nicht zu denken ohne das Nachdenken über die Tätigkeit des Schreibens“. Diese gewaltige Schreibanstrengung hat Volker Hage dann doch etwas überfordert, er eilt zum Schluß, eilt dorthin, wo der Blick der Presseabteilung immer als erstes hinfällt, und da steht es dann auch (und später ebenfalls in der Verlagsreklame): „Ein gewaltiges Werk ist Peter Handke da nicht nur an Seitenzahl gelungen“, oh nein, auch an Buchstabenzahl, „eine trotzige Selbstbehauptung des einsamen, aber eben gerade dabei so wachen Träumers.“ Aber eben gerade dabei so so – es kann sich nur um ein „Meisterwerk“ handeln; Belege überflüssig.

Es wäre von jedem Rezensenten zuviel verlangt, wenn er etwa zugeben müßte, daß er nicht versteht, was er unterm blätternden Lesen zur Rezension gefriertrocknet. Am schönsten heuchelt es sich mit Jürgen Busche: „Peter Handkes Roman (...) ist ein Epos geworden, in dem der Leser gern und länger Aufenthalt nimmt, als es in Jahren und Jahrzehnten zu messen ist.“ Zu dumm, daß man in München auf die Rezension wartete, und der einsame, aber eben gerade dabei so wache Träumer Busche nicht Jahre und Jahrzehnte Aufenthalt in dem Frankfurter Hotel nehmen konnte.

Thomas Steinfeld von der FAZ wurde zwar nicht Erster beim Sprung in die Niemandsbucht, seine Rezension erschien erst am 12.November, dafür brauchte er aber kein Zimmer zu mieten. Vor lauter parodierendem Staunen gerät er selber ins schwarzwaldfinstere Heideggern: „Der Pilz ist, wie jeder Gegenstand, den diese Art der Anschauung sich erwählt, das widerspenstige Material einer Bewährung.“ So benebelt ist Steinfeld vom Pilzeessen, daß sich bei ihm Zitat und Kommentar fröhlich vermengen. Handke versteht er nicht, wie soll er da seine eigenen Sätze verstehen? Der Andrucktermin drängt, und so läßt Steinfeld die Sätze laufen, wie sie wollen, und sie wollen dichten: „Und doch hat er mit dem Versuch, die eigene Biographie in eine Heils- und Erlösungsgeschichte zu verwandeln, mehr getan als Hermann Hesse im ,Glasperlenspiel‘. Denn er macht sich selbst zum Bürgen seines poetischen Gebets.“ Und wenn denn doch nicht?

Wieder eine Woche später, am 19.November, konnte man Thomas Assheuer in der FR bei der innigen Zwiesprache mit Handkes Buch beobachten. Er kreist um das Buch wie um einen uralten Turm: „Aber es ist kein Frieden, und so wird der Leser Zeuge einer tausendseitigen Vergeblichkeit, in der der Wunsch, die Welt als Ganzes zu erzählen, übergeht in die Erzählung vom Scheitern des Epos, diese wiederum in die Autobiographie des Erzählers und in die Kreisbewegung des Schreibens.“

Ein Schleudertrauma ist offenbar das mindeste, was einem Handke beschert. „Es gibt die Verwandlung, aber nur im Medium, in der sie beschrieben wird; und sie endet, wenn das Buch endet, wie ein Pyrrhussieg über die Trauer.“ Wer's versteht, kriegt fünf Mark.

Da hat Peter Handke also an die sieben Jahre getragen an einem Buch, und jetzt darf er erleben, wie die Kritiker mit hängender Zunge durch sein „Märchen“ rasen und sich in gespreizter Hilflosigkeit überbieten. Ein Trost nur bleibt: Keiner konnte das Kunstwerk bislang verraten. Dafür hätte es Verständnis und ein wenig Zeit gebraucht. Die Literaturkritik aber hat wieder einen gewaltigen Schritt nach vorn zu ihrer Selbstabschaffung getan. Und das ist doch eine lustige Geschichte.