Blondinen sagen fast niemals nein

Mit der Europäischen Union ist es wie mit Kondomen: Keiner will rein. Aber um der Sicherheit willen ... Ab morgen stimmen die NorwegerInnen über den EU-Beitritt ab, das Nein scheint festzustehen  ■ Aus Oslo Reinhard Wolff

Suge heißt saugen. Der Svenskesuget, der schwedische Sog, beherrschte die zwei letzten Wochen vor der norwegischen EU-Volksabstimmung morgen und übermorgen. Das knappe Ja der schwedischen NachbarInnen kam zu einem Zeitpunkt, zu dem die Ja- Seite auf völlig verlorenem Posten zu stehen schien. Das schwedische Ergebnis hat zumindest bewirkt, daß es jetzt nicht mehr so ganz hoffnungslos aussieht für Gro Harlem Brundtlands Weihnachtswunsch: ein Norwegen als EU- Mitglied. Der Svenskesuget hat soviel vom Nein-Vorsprung aufgesaugt, daß nunmehr ein paar zehntausend NeinsagerInnen, die nicht zur Urne gehen, die Volksabstimmung entscheiden könnten.

Suge steht aber auch für lutschen, knutschen – und das setzt Fantasie frei im ohnehin sehr speziellen Verhältnis zwischen NorwegerInnen und SchwedInnen. „Willst du dich von einem Schweden ablutschen lassen?“ und „Der schwedische Knutschfleck hält nicht lange!“ sind einige der neuesten Kreationen im Plakatwald. Wobei man überhaupt der norwegischen Volksabstimmungskampagne viel vorwerfen kann. Nur nicht Mangel an Humor. Da wurden die auch in Norwegen beliebten Blondinenwitze – sie rangieren gleich hinter den Schweden-Witzen – umgepolt. Von Blondinen selbst, die sich unter dem Motto „Blondinen sagen nie nein – nur am 28. November“ organisiert hatten. „Wenn sogar wir mit unseren wenigen grauen Zellen“, so Mina Gerhardsen, eines der Gründungsmitglieder, „es schaffen, am 28. November nein zu sagen, müßte es eigentlich auch für andere möglich sein.“ Warum sie nein sagen? Ehren-Blondine Kristin Halvorsen von der Sozialistischen Linkspartei: „Wir haben die Männer in der EU-Kommission eingehend studiert: Sie sind weder sexy, noch haben sie Geld. Also kein Grund für ein Ja.“

Im Kellerrestaurant „Marilyn“, dem angeblichen Stammlokal der nein sagenden Blondinen, sind zur späten Frühstückszeit gerade einmal zwei hellhaarige Frauen zu finden. Von denen Kristin absolut nichts von Blondinenwitzen hält, da diese frauendiskriminierend seien, und Ragnhild Ja sagen will. Nicht etwa weil sie zur Organisation der Ja-Blondinen gehört. Diese wurde – ähnlich wie die Gruppe der „Blauäugigen Bräute“, Motto: freier Marktzugang zu 175 Millionen charmanten EU-Männern – unmittelbar nach der schwesterlichen Nein-Gruppe gegründet, sagt niemals nein und will etwas gegen den Blondinen- Unterschuß in der EU tun. Nein, Ragnhild gehört als unorganisierte, überzeugte Jasagerin ganz einfach zur Mehrheit der Bevölkerung hier in Oslo. Insgesamt aber zur Minderheit. Denn noch klarer als in Finnland und Schweden geht in Norwegen die ländlich-städtische EU-Trennlinie durch das Land: Nur Oslo sagt mehrheitlich Ja, das restliche Land Nein.

Ragnhild setzt auf Gro Harlem Brundtland. Sie – brünett – werde ähnlich wie Schwedens sozialdemokratischer Ministerpräsident Carlsson – grau – die zweifelnden WählerInnen ihrer Arbeiterpartei das Ja ankreuzen lassen. Immerhin: Wenn die letzten Meinungsumfragen nicht ganz falsch liegen, wissen 200.000 aus Brundtlands tief gespaltener Ein-Millionen-Gefolgschaft noch nicht, wie sie stimmen sollen. 70 Prozent davon müßte sie zu einem Ja überreden – und das scheint dank des Svenskesuget zumindest nicht mehr unmöglich.

Grete Birkeland betreibt einige Häuserblöcke vom „Marilyn“ entfernt einen Zeitungs- und Souvenirladen. „Ich mache aus Trauer eine Woche lang den Laden zu, wenn Ja gewinnt“, verspricht sie durchaus glaubwürdig. Grete gehört zu der Reihe der engagierten NeinsagerInnen, von denen ein paar Tage vorher die Schlagzeile der Boulevardzeitung Dagbladet verkündete: „Brach sich im Schwedensog das Bein!“ Er, Martin Lie, 87jähriger Neinsager, wurde so erregt angesichts der Fernsehnachrichten über das schwedische Ja- Ergebnis, daß er das Gleichgewicht verlor – mit den geschlagzeilten Gesundheitsfolgen.

Grete ist gut dreißig Jahre jünger und verweist auf ihre Kundschaft: „Fast alle Touristen sagen, geht bloß nicht in die EU. Gerade die aus EU-Ländern.“ Die Begründung ist eine Lawine aus Mißtrauen gegen alles, was mit Politik, Bürokratie und dem zu tun hat, was Norwegens Selbstbestimmungsrecht bedrohen könnte.

Im Angebot hat Grete auch den derzeitigen Bestseller auf dem reichlich gedeckten EU-Büchertisch. Das 55seitige Bändchen heißt „Nation oder Union“, ist verfaßt von Pastor Åge Åleskjaer vom freikirchlichen Osloer Christlichen Zentrum und verbreitet „Gottes Erlösung von der Qual der Wahl“: Die EU breche mit den göttlichen Prinzipien, und niemand solle für das Linsengericht einiger ECUs die norwegische Nation verkaufen. Auch die weiteren vorderen Plätze der Bestsellerliste werden von Nein-Botschaften beherrscht, unter die sich nur ein Ja-Buch geschmuggelt hat, weil die konservative Höyre-Partei fast die ganze Auflage aufgekauft und in der Volksabstimmungskampagne verschenkt hat.

Mag Oslo laut Meinungsumfragen auch die große Ja-Festung des Landes sein – auf der Straße merkt man davon nicht viel. 30.000 TeilnehmerInnen konnte die Nein- Seite eine Woche vor der Abstimmung in einer der größten Demonstrationen nach Kriegsende sammeln. Populäre Namen wie der der Schauspielerin Liv Ullmann, des Ökonomie-Nobelpreisträgers Trygve M. Haavelmo und Salman Rushdies Verleger William Nygaard schmücken die Nein- Kampagne. Selbst von 50 Top-Industriellen, die von der Wirtschaftszeitung Dagens Naeringsliv dazu befragt worden, wollten sich nur 23 zu einem klaren Ja bekennen. Die Nein-Stimmung scheint so massiv, daß die knappen letzten Umfrageergebnisse kaum glaubwürdig erscheinen. Oder sollten noch mehr so denken wie Paul vor Gretes Laden: „Irgendwie ist es wie mit den Kondomen. Keiner will rein, aber von wegen der Sicherheit will man dann doch lieber.“

Die millionenfach verbreitete Ja-Broschüre bringt es auf den Punkt: „Norwegen kann gut alleine stehen. Aber dann laufen wir Gefahr, von Gremien abhängig zu werden, in denen wir kein Mitbestimmungsrecht haben.“ Das einst in den Himmel gelobte EWR-Abkommen ist für Ja jetzt plötzlich das, als was es die GegnerInnen schon immer bewertet haben: Europa erhält Einfluß auf die norwegische Wirtschaft, ohne daß Oslo mitreden kann. Nur ein Ja führe aus dieser EWR-Sackgasse heraus. Die Ja-Seite baut auf extrem kurzes Gedächtnis.

Doch von heißen Debatten hierüber ist an diesem Mittag im Zentrum der Hauptstadt nichts zu spüren. Weder die Leute im Werbe-Container der NeinsagerInnen noch die im Ja-Campingwagen können sich über zu großen Volksansturm beklagen. Und Ole Kopreitan, Ur-Aktivist und stadtbekanntes Osloer Unikum, der gleich nebenan seinen Stammplatz hat, war schon 1972 dabei, als es um Ja oder Nein zur EWG ging. Die letzten zehn Jahre hat er vor allem „Nei-til atomvåpen!“-Buttons verkauft, und diesen Herbst ist wieder „Nei-til EU“ an der Reihe. Der alte Schwung sei weg, die Nein-Bewegung nicht mehr das, was sie vor über zwanzig Jahren war. „Man ist bequem geworden, tut zu wenig. Man vertraut auf eine diffuse Nein-Stimmung, und haben wir Pech, fühlen sich zu viele in Sicherheit und gehen nicht abstimmen.“ Ole, Verfasser eines „Graswurzelhandbuchs“, glaubt an direkten Kontakt, nicht an Zeitungsanzeigen und TV-Diskussionen, redet mit jedem, der bei ihm stehen bleibt. Und der Soldat, der gerade einen seiner emaillierten Buttons kauft, bekommt gratis noch eine Postkarte und den Hinweis auf eine Anti-Atomwaffen- Diskussionsrunde am Abend.

Vielleicht haben die regierungsamtlichen PR-Profis von Ole abgeguckt. Aus der tristen Flut der Flugblätter und Broschüren, dem ebenfalls sterbenslangweiligen Nein-Lesebuch und der CD der 21 KünstlerInnen gegen die Union ragt ein Regierungsvideo heraus, in dem 20 Minuten lang dargestellt wird, wie EU-Skeptiker Gunnar von seiner Ja-Ehefrau Hjo/rdis vom Ja überzeugt wird.

Bangemachen vor einem Nein und Verschleierung der Folgen eines Ja ist so etwas für Anne Enger Lahnstein. Sie ist Vorsitzende der bäuerlichen Zentrumspartei, die neben der Sozialistischen Linkspartei die Nein-Seite der Parlamentsparteien repräsentiert – und als solche in allen Fernsehdiskussionen direkte Gegenspielerin von „Mama Norge“, Ministerpräsidentin Brundtland. Ihre Reden pflegte Lahnstein in den letzten Tagen mit zwei Fragen zu eröffnen: „Wer hat Angst vor dem Svenskesuget? Und wer hat Angst, daß wir bei einem Nein in der Efta bleiben, die nur aus Island, Liechtenstein und Lahnstein besteht?“ Niemand. Ihr Fazit für die Nein-Seite ist dem von Ja gar nicht unähnlich: „Wir wollen nicht von außen gesteuert werden. Das ist der Knackpunkt, warum wir nein sagen.“

Die prominenten NeinsagerInnen um Nygaard, Ullmann, Haavelmo & Co. versuchen es in einer gemeinsamen Nein-Wahlanzeige zum Abschluß der Kampagne mit einer etwas über Norwegens Grenzen hinausweisenden Perspektive: „Eine Welt in Veränderung fordert Vielfalt in Europa. Norwegen wird sein Bestes für ein demokratisches Europa mit wirklicher Verantwortung für die Dritte Welt tun, indem es außerhalb dieses Machtblocks EU stehen bleibt.“

Ähnliche Botschaften der Nein- Seite waren in Finnland und Schweden letztendlich in einem diffusen „Europa-Gefühl“ untergegangen. Aber die Nein-Bewegung in Norwegen ist ungleich stärker, besser organisiert – mit 443 Lokalvereinigungen und 135.000 Mitgliedern die größte politische Organisation überhaupt – und hat längere Tradition als in den skandinavischen Nachbarländern. Und: Der Nein-Vorsprung scheint uneinholbar festzustehen.