Wer sich von der Herde löst ...

Reislamisierung türkischer Jugendlicher  ■ Aus Bielefeld Walter Jakobs

Das Thema ist heikel und Beifall von der falschen Seite nicht ausgeschlossen. Soll man deshalb schweigen? Etwa über den wachsenden Einfluß islamisch-fundamentalistischer Strömungen auf türkische Jugendliche in Deutschland? Nein, da waren sich die meisten TeilnehmerInnen der Bielefelder Konferenz zur „ethnisch- kulturellen Konfliktforschung“ einig: Verdunkelung hilft gar nicht, wenn man auf die Konfliktpotentiale einer multikulturellen Gesellschaft politisch reagieren will.

„O Gott, was kommt da auf uns zu.“ So beschrieb der Frankfurter Sozialwissenschaftler Thomas von Freytag, sein spontanes Gefühl, nachdem Emir Ali Sag am Donnerstag seinen Vortrag über die Anziehungskraft fundamentalistischer Organisationen auf türkische Jugendliche beendet hatte. Bei genauem Hinsehen, so fuhr von Freytag dann aber fort, sei die Situation doch weniger dramatisch, denn die Chancen der Fundamentalisten beschränkten sich weitgehend auf jene dreißig Prozent der ausländischen Jugendlichen, deren Aufstiegschancen in Deutschland minimal seien. Doch da widersprach Sag heftig: „An der Universität findet dieser Prozeß genauso statt. Das sind nicht die Unterprivilegierten, sondern diejenigen, die Aufstiegschancen bereits hatten.“

Eine ähnliche Beobachtung hat Reinhard Hocker in Köln bei 50 türkischen Jugendlichen gemacht, die sich islamisch-nationalistischen Vereinen (etwa den Grauen Wölfen) angeschlossen haben. „Da war nicht einer dabei, den man als erfolglos bezeichnen könnte.“ Woher rührt diese Attraktivität? Aus der Diskriminierung und Ausgrenzung, die Migranten in Deutschland erfahren, lautet die in linken Kreisen wohl verbreitetste Antwort. Fundamentalismus und Gewaltbereitschaft bei der Minderheit also als Reflex auf die Gewalt der Mehrheitsgesellschaft?

Für junge Türken wie den von Hocker befragten Ramasan waren die mörderischen Anschläge von Mölln und Solingen tatsächlich Auslöser, sich den „Grauen Wölfen“ (Motto: „Das Türkentum ist unser Körper, der Islam ist unsere Seele“) anzuschließen. Nach Solingen, so Ramasan, „ist es sehr wichtig, wer wir sind und daß wir gut sind. Wir wollen stark sein.“ Ganz anders klingt das indes bei seinem Altersgenossen und Mitstreiter Ali: „Das hat mit Solingen gar nichts zu tun, sondern mit der Türkei, die kein islamischer Staat ist, aber einer werden soll.“ Daß zur Durchsetzung der Ziele Gewalt angewendet wird, stößt auf breite Zustimmung. Auch die Gewalt etwa gegen den laizistischen türkischen Schriftsteller Aziz Nesin. Hocker zitiert einen türkischen Jugendlichen so: „Wenn er wirklich gegen den Islam kämpft, muß man ihn töten.“

Wilhelm Heitmeyer, Organisator der Bielefelder Tagung, nennt vier Hypothesen, um den wachsenden Einfluß des religiös-islamistischen Fundamentalismus bei Muslimen in Europa zu erklären. Neben der Reaktionshypothese, Fundamentalismus als Reflex auf Fremdenfeindlichkeit, spricht Heitmeyer von der Modernisierungs-, der Identitätshypothese und der geopolitischen Hypothese. Letztere zielt auf die islamischen Staaten, die durch Druck auf die Migranten die Islamisierung in Westeuropa voranbringen wollen. Ob der kapitalistische Modernisierungsprozeß, der soziale Zusammenhänge zerstört und die Suche nach neuen Gewißheiten fördert, den größten Schub in Richtung islamischer Fundamentalismus bringt, steht dahin. Sicher ist aber, daß die Entscheidung vieler Migranten zum endgültigen Verbleib in Westeuropa zusammenfällt mit der Verweigerung von Identitätsangeboten durch die Mehrheitsgesellschaft. Diese Identitätslücke, so die Heitmeyer-Hypothese, führt bei einem Teil der Migranten dazu, daß die „ethnisch-territoriale Zugehörigkeit (,Türke') ersetzt wird durch die religiös-kosmopolitische (,Muslime')“.

In Hunderten der über 1.500 türkisch-islamischen Gemeinden in Deutschland geben die Fundamentalisten inzwischen den Ton an. Seit den 80er Jahren, so erzählt Emir Ali Sag, wird von ihnen dieses türkische Sprichwort propagiert: „Denjenigen, der sich von seiner Herde löst, den schnappt der Wolf.“ Die reale Diskriminierung und der rechtsradikale Terror gegen Türken werden als „Vehikel“ zur ideologischen Anbindung genutzt. Tatsächlich ziehen sich immer mehr türkische Jugendliche in den ethnischen Bereich zurück. Hoffnung auf eine Besserung des Verhältnisses zwischen Deutschen und Türken hegen die meisten der fünfhundert von Sag Befragten nicht. 76 Prozent von ihnen glauben auch nicht daran, „daß eine Einbürgerung ihre individuelle Lage positiv verändern kann“, obwohl mehr als die Hälfte von ihnen einen Einbürgerungsantrag stellen will. Entspannung erhofft sich Emir Ali Sag von einer Politik, die Migranten gleichberechtigte Teilnahme am politischen und gesellschaftlichen Leben gewährt. Gleichzeitig müsse man aber in Deutschland die Grenzen der Integration respektieren und es als Normalität begreifen, auch „nebeneinander zu leben“.