Full House ohne Karten

■ Zur Nachahmung empfohlen: Das Junge Theater hat mit freiem Eintritt neue Theater-Sympathien geweckt

Was nichts kostet, kann einiges wert sein. Das beweist zur Zeit das Junge Theater, das im November sämtliche Veranstaltungen kostenlos anbietet. Das bringt zwar kein Geld, aber Ruhm, und in diesem Sinne ist das Projekt schon jetzt ein Erfolg. Nur leider konnte der Titel der Reihe nicht ganz eingelöst werden: Das „Theater für alle“ ist nämlich nicht für alle da. Beinhahe jeden Abend schloß sich die Tür vor Menschen, die vergeblich Einlaß begehrten.

Dabei kam es zu unschönen Szenen im Chor der Ausgesperrten: „Zum ersten Mal in meinem Leben will ich ins Theater und jetzt darf ich nicht rein“, knatscht eine Anfangssemesterin, die am Samstag Cora Frost und Tim Fischer erleben möchte. Wie sie harrt ein älter Herr schon eine Stunde vor Beginn der Veranstaltung in der Warteschleife aus. Er will testen, ob er zu alt ist für's Junge Theater, doch der Einlaß trennt ihn von der Antwort. Seinen Platz werden jene Kids einnehmen, die mit Thermosflasche bewaffnet schon gegen sechs Uhr im Foyer eintrudelten.

„Sie haben kein Geld, aber sie haben Zeit investiert, um dieses Stück zu sehen,“ freut sich Lutz Gajewski, Schauspieler und Mitbegründer des Jungen Theaters. Es sei gelungen, bilanziert er, „ganz andere Leute“ zu locken, solche, die nie oder selten ins Theater gehen. „Das ist mir sonst einfach zu teuer“, bestätigt eine Besucherin, die sich andererseits wenig scheut, 30 Mark und mehr für ein Konzert auszugeben. „Aber da“, wendet sie ein, „weiß man, was einen erwartet, beim Theater ist das anders.“

Gut gegeben, denn schröcklich ist, was auf dich zukommen kann! Entweder ein modernes Stück, und da wirst du am Ende noch einbezogen ins Spiel. Oder es ist die harte Kost der Tradition, die, lehrt die Schule, meistens ziemlich schwer ist. Mary Stuart, Heinrich VIII oder Nathan der Weise wirken bleiern nach. Viele galuben noch immer, sie müßten, um ein Theaterstück zu verstehen, sich vorher damit auseinandersetzen. „Bei uns ist das umgekehrt“, versichert Gajewski. „Hier kriegen die Leute durch das Stück den Anstoß, sich mit etwas zu beschäftigen.“ Und tatsächlich wurde heftig diskutiert, in den Pausen, nach den Veranstaltungen, auf der Straße: Das Spektrum der Themen entsprach dem der Stücke und reichte von der Frage „Dürfen rechte Skins auf diese Bühne“ bis zum selbstbesinnlichen „was hat Cora Frost, das ich nicht habe“?

„Theater ist Kommunikation“ buchstabiert Lutz Gajewski einen der Grundsätze seiner Crew, die sich ganz nebenbei in die Requisiten schauen ließ. Weil viele BesucherInnen mehrfach kamen, manche sich gar zu Stammkundinnen entwickelten, lernten sie automatisch die Aktiven des Jungen Theaters kennen, die mal auf der Bühne, mal am Tresen, mal am Telefon arbeiten. „Sie haben den Betrieb hautnah erlebt und waren erstaunt, mit welch reduzierten Mitteln das hier läuft.“ Ist das denn noch richtiges Theater, fragten mehrfach Ungläubige und formulierten ihr neues Interesse in dem Wunsch, über die Zwischenphase einer ehrenamtlichen Mitarbeit als Putzhilfe demnächst selbst die Bretter der Welt erklimmen zu dürfen.

Es scheint, daß das Experiment des Jungen Theaters eine Neugier geweckt hat, die mehr ist als kurzes Schlummererwachen. Davon könnten auch andere Spielstätten profitieren. „Die sollten das mit den anderen Theatern zusammen machen, das ganze Jahr über, jeden Monat im Wechsel“, diktiert eine Besucherin in den Block und ergänzt etwas unsicher: „Ich weiß nicht, kommt das zahlenmäßig noch ungefähr hin?“

Tatsächlich lähmte die Angst vorm Verlust der Einnahmen die Gemüter. Das Symptom wurde ausgeschwitzt, indem anfängliuch die Reihe als „billige PR-Kampagne fürs Junge Theater“ verunglimpft wurde. Es handelt sich jedoch eher um eine PR fürs Theater überhaupt, die viel Mühe und etwa 35.000 Mark kostet. Zusammengetingelt wurde die Summe beim Wirtschafts-, Kultur- und Sozialressort, bei Betrieben und EinzelsponsorInnen. Hier gab ein Buchladen 550 Mark, dort spendete der Blumenladen von nebenan die floristische Kulisse. Rührung löst bei den OrganisatorInnen auch das prall gefüllte Sparschwein auf dem Theatertresen aus.

Grund genug, das Experiment im kommenden Jahr irgendwie fortzusetzen. Wie, ist noch unklar, doch möglichst sollen sich andere Bühnen daran beteiligen. Dora Hartmann