Ein Radler sieht Rot

Wie einer ohne Anwalt in juristische Labyrinthe auszog, um das Recht der Schwachen im Straßenverkehr zu erstreiten – eine Rotlichtaffäre aus der Bischofsstadt Aachen, aufgezeichnet  ■ Von Bernd Müllender

Justitia ist eine unnahbare Dame. Vor allem, wenn man ihre Reize und Geheimnisse auf eigene Faust zu erkunden versucht. Und wenn es auch noch um eine Herzensangelegenheit geht.

Doch alles der Reihe nach: Eines Tages bat eine Polizeistreife den Aachener Journalisten Bernd M. vom Rad. Ob er wisse, warum? Ja, Herr Wachtmeister, sagte er, er sei gerade bei Vollrot über eine Ampel gefahren. Ohne jedes Versehen. Und voller Absicht. Ein solch offenes Geständnis gibt es im harten Berufsalltag eines deutschen Streifenbeamten sicher nicht oft, und so folgte erst mal eine kurze Pause der Verblüffung. Dann, etwas stockend, das übliche Angebot: Verwarnungsgeld fünfzig Mark. Nein, nicht eine Mark! M. versucht zu argumentieren. Haha, bei Rot, sagte die Grünuniform, das solle er dann mal einem Richter erzählen.

Was er gern tun wolle, willigte M. ein.

Einfach so als Radfahrer bei Rot über eine Ampel – selbst wohlmeinende Freunde schüttelten den Kopf. Doch schnell konnte sich der Rotradler stückweise Richtung Verständnis argumentieren: Bei Rot ohne Radweg ungeschützt vor einer Ampel stehenzubleiben und auf den von hinten per „grüne Welle“ heranbrausenden Autoverkehr zu warten, das könne lebensgefährlich sein. Schon oft genug erlebt! Hautnah gerade an dieser Kreuzung, wo RadfahrerInnen sowieso nur als Hindernisse angesehen werden. Dann lieber, wenn alles frei sei und definitiv niemand gefährdet werde, aus Selbstschutzgründen in sichere Gefilde abbiegen oder davonradeln. Langsam, vorsichtig, umsichtig. Aber egal, bei welcher Farbe.

Er habe ja recht, aber... Die Regeln..., wenn da jeder...

Kein Aber! Jetzt wollte er auch recht bekommen. Verkehrsregeln sollen zwar für alle gelten, sind aber nicht für alle gemacht. Besonders für die Schwächsten nicht, die RadfahrerInnen. Und in Aachen, einer engen und besonders radwegearmen Stadt, ist die Situation ausgesucht tückisch und gefährlich.

Der Anwalt sagt: „Politisch hochinteressant, prima Sache.“ Seinen Beistand vor Gericht erspart sich M. im Wortsinn. Begründen kann er allein. Objektiv schuldig nach den Gesetzesbuchstaben, dennoch subjektiv unschuldig – das wäre ein tolles verkehrspolitisches Urteil. Und kleine Chancen gebe es durchaus. Sagt der Anwalt. Hofft auch der inkriminierte Radler.

Die Widerspruchsbegründung gegen den Bußgeldbescheid steht an. M. schreibt vom „Akt des Selbstschutzes“, daß ein stures Festhalten an Paragraphenwäldern gefährlich sein könne. „Lieber lebendig vor Gericht stehen als gesetzestreu überrollt auf dem Asphalt liegen.“ Und er führt aus, daß Sonderregelungen für Radfahrer nichts Besonderes sind. Es gibt sie schon: Manche Ampeln gelten nur für den motorisierten Verkehr; Einbahnstraßen sind manchmal für Radler beidseitig befahrbar, Abbiegevorschriften gelegentlich aufgehoben. Mancherorts dürfen sich Radler an Ampeln sogar in eigens ausgewiesenen Zonen vor die mit wartenden Autos stellen. Der Grüne Pfeil erlaubt selbstverantwortliches Abbiegen bei Rot. M. habe sich lediglich so verhalten, als sei an der Aachener Ampel ein Grüner Pfeil angebracht gewesen, et cetera et cetera.

Statt einer Würdigung der Argumente durch die Verwaltungsbürokratie kommt gleich eine Ladung vor Gericht. Also gut! Im Schaukasten des Amtsgerichts hängt die lange Verhandlungsliste des Tages aus, Bagatellsachen alles, die im Viertelstundentakt abgearbeitet werden sollen. Für M.s Date mit Justitia sind immerhin 45 Minuten vorgesehen. Das macht Mut.

Der Richter ist sehr jung. M. teilt mit, er wünsche „einige dienliche Argumente zur Wahrheitsfindung“ abzugeben. Der Richter versteht die justizhistorischen Anflüge altersbedingt nicht, gestattet es aber, und M. darf, anders als Fritz Teufel damals, sogar sitzen bleiben. Unbewegt nimmt der Richter die Ausführungen zur Kenntnis. Eine Gerichtsreporterin fragt ihn nach seinem Vornamen, er verweigert die Auskunft. Hilfsweise weist er darauf hin, das sei im Gerichtshandbuch nachzulesen. Die Journalistin ist sauer.

Der Angeklagte zitiert aus einer Broschüre der deutschen Verkehrswacht, herausgegeben vom Bundesverkehrsminister, ein sicher unverdächtiger Zeuge: „Für den einzelnen Verkehrsteilnehmer kann die exakte Befolgung von Regeln problematisch sein.“ Und dies: „Normabweichende Verhaltensweisen können auf Schwächen in bestehenden Ordnungen hinweisen und Ausgangspunkt für sinnvolle Veränderungen sein.“

Was nichts Neues wäre: Autos müssen an Stau-Enden heute warnblinken – früher verboten. Radler dürfen sich heute bei Ampel-Staus vorsichtig an Autos vorbeischlängeln – früher war auch das verboten. „Ein angemessenes Verhalten“, so die Broschüre, „erfordert in schwierigen Situation ein individuelles Abwägen verschiedener Alternativen...“ Was, Hohes Gericht, sagt M., habe ich denn anderes gemacht?

Der Richter fragt M., ob er den Bußgeldkatalog kenne. Der Angeklagte verneint bedauernd: Solcherlei gehöre nicht zu seiner täglichen Lektüre. Der Richter zitiert sätzeweise, es fällt das Wort Fahrverbot. Großartig, sagt M. Das hätte was: Radfahrverbot wegen besonderer Uneinsichtigkeit – Haha! Zwangsfußgänger – Hoho! Oder nicht mal das? Droht Hausarrest? Ist M. generell verkehrsungeeignet? Bei Radlerrot, so der Richter weiter, seien bis zu 125 Mark Buße möglich – ob M. da nicht mit 50 Mark zufrieden sein wolle?... M. erklärt, er halte ein deutsches Gericht nicht für einen Basar, wo er auf 49,50 Mark feilschen wolle: Freispruch oder egal!

Der Richter schließt die Beweisaufnahme ohne das Angebot des letzten Gehörs und verkündet in einem Atemzug in des Volkes Namen: 50 Mark Buße! Das langweiligste Urteil überhaupt. Sollte wohl heißen: Ihr Auftritt, Herr Angeklagter, war absolut überflüssig. In der mündlichen Urteilsbegründung referiert der Richter von einem „engagierten Radfahrer“, der sich „sicher viele Gedanken gemacht“ habe. Danke! Aber: „Die Straßenverkehrsordnung steht hier nicht zur Disposition.“ Lichtzeichenanlage bleibt Lichtzeichenanlage!

Im Westdeutschen Rundfunk heißt es später, M. sei „weder Witzbold noch Querulant“, sondern habe nur hartnäckig erreichen wollen, daß für Radfahrer etwas getan werde. Die Lokalpresse schreibt von einer „Rotlicht-Affäre“. Und die örtliche Radlerinitiative ruft M. zu Hause an: Schandurteil! Kopf hoch! Nieder mit der Autoverkehrsordnung! Nicht aufgeben!

M. ist einverstanden: Immerhin hatte der vornamenlose Richter Beschwerde zugelassen und eine Rechtsmittelbelehrung überreicht.

Deren Sprachverrenkungen tragen zwar einiges zur Unterhaltung des künftigen Beschwerdeführers, aber nichts zum Verständnis bei. Doch mit Hilfe des Anwalts gelingt es M., das Rätsel zu lösen, und so betritt er rechtsbeschwerdewillig das Amtsgericht. Sein zuständiger Rechtspfleger – gefunden schon in der 9. Tür – heißt Kappauf. Da es Aschermittwoch ist, erkühnt sich M. bei Eintritt in die Amtsstube zur Stimmungslockerung zu dem Scherz, tagesaktuell erscheine ihm „Kappab“ angemessener. Eisige Reaktion. Okay, es geht ja auch um die Sache.

Herr Kappauf ist am Kappabtag nicht gut drauf. Lange versucht er, M. abzuwimmeln. Sinnlos! Bei Rot! Hören Sie mal! Wenn da jeder...! Plötzlich erwacht seine Berufsehre: Im Urteil ist das Geburtsdatum ja falsch geschrieben! M. war das ziemlich wurscht. Schon gar nicht wollte er aus solch niederen Beweggründen das Urteil formal anfechten. Nein, meint Kappauf, da müsse extra ein Aktenvermerk angelegt werden...

Die Debatten mit dem Pfleger sind sehr zäh.

M.s vorbereiteter Text wird abgelehnt – Selbstverfassen wird den BürgerInnen nicht zugetraut. Es müsse eine Niederschrift angefertigt werden. Handschriftlich versucht Kappauf, den mit vier Büroklammern gebündelten Vierfachdurchschlag (Kohlepapier) lesbar zu beschriften. Dann wird er doch kooperativ: Besser sei doch... Schreiben wir doch lieber... Beim Hinausgehen nach knapp zwei Stunden wünscht er viel Erfolg – „Eigentlich haben Sie ja recht“; und er selbst sei ja auch leidenschaftlicher Radfahrer. „Und sagen Sie mir unbedingt Bescheid, was daraus geworden ist.“ Hut ab, Herr Kappauf!

Bald klingelt bei M. dauernd der Briefträger. Das erste Schreiben mit Zustellungsurkunde erklärt, M.s Geburts-Fehler berichtigen zu wollen. Aber nicht einfach so: „Hierzu können Sie binnen 1 Woche Stellung nehmen.“ M. verzichtet.

Dann kommt vom Oberlandesgericht Köln als Revisionsinstanz die rote Karte fürs Radrot. Zum tieferen Verständnis möge M. vergleichen: „BayObLG NJW 1992, 1907; Sen E NZV 1992, 419 = VRS 83, 367.“ Aha! Eine „Fortbildung des materiellen Rechts“, heißt es, sei nicht ersichtlich. Und getadelt wird M. auch noch: Er habe in seiner Beschwerde nicht aufgeschrieben, was er gesagt hätte, wenn er im Schlußwort noch was hätte sagen dürfen. Was aber auch unbedeutend sei, denn er habe doch sehr wohl das letzte Wort gehabt: Das „beweist die Sitzungsniederschrift“.

Eine kühne, weil sachlich falsche Behauptung, sagt M. Das steht zwar da drin, aber es war nicht so. Statt recht bekommt er bald die Rechnung. Erfahrung kostet. Aber ganz umsonst sollte der große Triumph folgen. Per Postzustellungsurkunde und Siegel bekommt M. einen zweiten „Beschluß“ – über sein wahres Alter. Und fehlerfrei! Der Richter hat keinen Vornamen, aber M. darf sich freuen: über ein unanfechtbares Alter, exklusiv „im Namen des Volkes“.

Kurz darauf begegnet M. einem Dutzend AachenerInnen aus diversen Ämtern und Behörden, die im Auftrag des Volkes inspizierungswillig und behelmt im Konvoi durch die Innenstadt radeln. Sie überleben alle und ernennen – aus Dank – Aachen zur „fahrradfreundlichen Stadt“. Wie sie sich an roten Ampeln verhielten, ist nicht mit letzter Sicherheit verbürgt.

Wohl aber, was hundert Kilometer nördlich, im niederländischen Helmont nahe Eindhoven, passierte. Dort hat man auf den wichtigsten Strecken die roten Ampeln für Radler abgeschafft: Helmonts Lichtzeichenanlagen springen automatisch auf Grün, wenn ein Pedaleur sich nähert. Und Autos haben Rot.

Wir werden uns das bei Gelegenheit mal ansehen.