„Ein Freibrief für die Politik“

■ Empörung in Frankreich über einen Versuch eines Politikers, den Medien einen Maulkorb zu verordnen

Paris (taz) — Ein solches Gesetz ist seit langem der Traum französischer PolitikerInnen: es stellt die Berichterstattung über laufende Ermittlungsverfahren unter Strafe und macht die ständig neuen Korruptionsskandale in der Elite des Landes zur geheimen Verschlußsache. Dennoch wird die Neuerung, die der Neogaullist Alain Marsaud in der vergangenen Woche erfolgreich durch die erste Kammer des Parlaments brachte, vermutlich nicht in Kraft treten. Denn RichterInnen, JournalistInnen und oppositionelle PolitikerInnen rufen so einmütig „Skandal“, daß der Senat, dem das Gesetz Anfang Dezember zur Abstimmung vorliegt, eher zu einem „Nein“ neigt.

Nach dem Gesetz von Marsaud ist die Berichterstattung über laufende Ermittlungsverfahren künftig bis zum Beginn eines Prozesses verboten. Nur wenn der Betroffene zustimmt, dürfen Details aus den Ermittlungsakten zitiert werden. Mit dieser Einschränkung wären die französischen Medien in den vergangenen Monaten ihrer wichtigsten Meldungen beraubt gewesen: Beinahe täglich bringen sie in allen Einzelheiten Berichte über Durchsuchungen in Parteilokalen und Privathäusern, über PolitikerInnen, die bei der Justiz erscheinen müssen und über nie deklarierte Überweisungen in Millionenhöhe auf ausländische Konten. Vermutlich wären mit dem Marsaud-Gesetz auch die drei Minister nicht zurückgetreten, die die konservative Regierung in diesem Sommer verlassen mußten, weil wegen Korruption gegen sie ermittelt wird. Und vielleicht wären auch die französischen Knäste, in die in den vergangenen Monaten zahlreiche politisch Verantwortliche und Wirtschaftsbosse eingefahren sind, um einiges leerer.

Den Zeitpunkt für sein Gesetz hatte Marsaud gut gewählt. Er wartete bis spät in die Nacht zum vergangenen Dienstag ab, um seinen Vorschlag den verbliebenen zehn Abgeordneten zu unterbreiten. Neun stimmten zu. Die Öffentlichkeit brauchte ein paar Tage, bis sie merkte, was ihre gewählten VertreterInnen verbrochen hatten. Ende der Woche stand die Opposition: Das sei „ein Maulkorb“, ein „Freibrief für die Politik“, hieß es in den Medien.

Dabei ist die Idee, das Zitieren aus Untersuchungsakten der Justiz zu verbieten, weder besonders neu noch originell. Noch im vergangenen Monat hatten Mitglieder der oppositionellen sozialistischen Partei ein entsprechendes Gesetz im Senat eingebracht. Nachdem der konservative Regierungschef Edouard Balladur diese Initiative öffentlich gelobt hatte, zogen sie ihr Vorhaben zurück. Balladur selbst hat im Rahmen seiner Maßnahmen gegen die Korruption bereits mehrfach erklärt, daß ein besserer Schutz des Personenrechts notwendig sei. Zahlreiche PolitikerInnen hatten die Medien wegen Enthüllungen über noch nicht verurteilte Personen kritisiert. Erst vor wenigen Jahren hat eine neue Generation französischer UntersuchungsrichterInnen damit begonnen, die dunklen Machenschaften bei Parteienfinanzierung und öffentlichen kommunalen Aufträgen zu untersuchen. Die Öffentlichkeit bedeutet für sie einen gewissen Schutz. Gemeinsam mit JournalistInnen rebellieren sie jetzt gegen eine Reform, die beiden Berufen die Arbeit schwer machen würde. Dorothea Hahn