Unfreiwillige Komplizenschaft

Die Sanktionspolitik der Vereinten Nationen gegen den Irak nützt vor allem Saddam  ■ Von Julie Flint

Am 21. Juli dieses Jahres schickte Muhammad Taqi al- Khoei, hartnäckiger Verteidiger der im Irak verfolgten Schiiten, eine verschlüsselte Botschaft an seine Verwandten in London. Die gierigen Hände des Regimes würden sich wohl bald um ihn schließen, gab er darin zu verstehen. Vierundzwanzig Stunden später war er tot – Opfer eines Unfalls mit einem Lastwagen ohne Licht, der sein Auto auf dem Rückweg vom wöchentlichen Gebet in Kerbala überfahren hatte. Der Fahrer und Muhammads sechsjähriger Neffe waren sofort tot, er selbst und sein Schwager verbluteten auf dem Seitenstreifen.

Das geschah fast zwei Jahre, nachdem Max van der Stoel, der Sonderbeauftragte der UN für die Menschenrechte im Irak, den Sicherheitsrat auf Muhammad Taqi al-Khoei aufmerksam gemacht hatte – in „besonderer Sorge“ um den jungen Kleriker, den Sohn des verstorbenen spirituellen Führers der Schiiten.

Nach seinem Tod forderte Muhammad Taqis Familie die Vereinten Nationen auf, eine unabhängige Kommission zur Untersuchung der Umstände seiner Ermordung einzusetzen, die Familien der über hundert Kleriker, die ohne Prozeß in Haft sitzen, vor Übergriffen zu schützen, van der Stoels Empfehlungen zur Beachtung der Menschenrechte im Irak umzusetzen und Saddam Hussein zu zwingen, seine Unterdrückung der Opposition in Übereinstimmung mit dem Sicherheitsratsbeschluß Nummer 688 zu beenden. Als Antwort kam ein Beileidsschreiben von einem höheren Beamten der Behörde und eine Versicherung, daß man sich nach wie vor dem Beschluß Nummer 688 verpflichtet fühle – das war's. Nichts als Worte. Munition für all jene in der arabischen und islamischen Welt, die immer schon sagten, daß die von den USA geführte Intervention der Vereinten Nationen im Irak rein egoistische Motive hatte.

Je mehr der Druck zur Aufhebung des Ölembargos, das nach der Invasion Kuwaits gegen den Irak ausgesprochen wurde, wächst, desto mehr wächst auch Saddams Widerstand gegen die UN auf dem Gebiet der Menschenrechte: Er glaubt, die Beschlüsse hierzu straflos ignorieren zu können. Denn obwohl die Weltorganisation offiziell weder Kosten noch Mühen scheut, die Ausführung der Resolution 687 – das heißt die Zerstörung aller Massenvernichtungsmittel im Irak – zu überwachen, hat sie in wichtigen Angelegenheiten nur Sonntagsreden gehalten. Geheime Arsenale nuklearer, chemischer und biologischer Waffen wurden dank einer systematischen und gründlichen Suche gefunden, aber die hundert Kleriker – und Tausende mehr – ließ man in Gefängnissen verrotten. Alliierte Flugzeuge haben Raketenabschußrampen bombardiert, sobald der Irak die Geduld der Rüstungsinspektoren ein wenig überstrapazierte, man schaute jedoch weg bei der Zerstörung der Sumpfgebiete und der Ermordung ihrer Bewohner in der Flugverbotszone, die man im Südirak durchgesetzt hatte. Und auch die Kurden, die man schon in den Achtzigern ihrem Schicksal überlassen hatte, ließ man schmoren unter den Bedingungen einer jetzt schon drei Jahre andauernden Blockade.

Zu ihrer Verteidigung führen die Vereinten Nationen an, die Resolution 688 sei nicht absolut verpflichtend und zwingend. Aber selbst wenn man mit diesem Argument Saddams Verbrechen stillschweigend duldet (mancher Experte meint, daß sowohl Formulierung als auch Inhalt der Resolution sie zwingend mache – was hier fehle, sei der politische Wille), erklärt es nicht, warum keine Menschenrechtler in jene Gebiete des Irak geschickt wurden, zu denen ihnen der Zugang nicht verwehrt werden kann: in die unabhängige kurdische Region. Von dort aus beobachten auch die Mitarbeiter der oppositionellen Gruppierung des irakischen Nationalkongresses das Regime und seine Verbrechen. Der Verdacht, daß sich auch hier die Welt von ökonomischen Interessen leiten läßt, erhärtet sich in dem Maß, in dem dieselben Unternehmen, die Saddam aufgerüstet haben, sich um lukrative Verträge anstellen, die sofort nach Aufhebung der Sanktionen unterzeichnungsbereit sind. Ein kollektives Vergessen läßt die nächste Katastrophe heraufziehen.

Die Blindheit gegenüber den Menschenrechtsverletzungen in diesem Land hat das Leid der irakischen Bevölkerung perpetuiert, und die erratische Durchführung der UN-Sanktionen hat der Nation das Rückgrat gebrochen, deren zivile Infrastruktur durch den Krieg der Vereinten Nationen schon systematisch zerstört war. Heute hat der irakische Dinar nur noch einen Bruchteil seines alten Werts, und die meisten Menschen können sich kaum mehr einen Lebensmitteleinkauf auf dem offenen Markt leisten. Tausende von Irakern sterben jeden Monat, weil elementarste Medikamente fehlen. Korruption, Kriminalität und Prostitution wachsen epidemisch an und geben dem Regime einen Vorwand für immer neue Verhaftungen und Exekutionen im Namen von Law and order.

Dabei hätten die Sanktionen den Irak durchaus nicht in einen derart verheerenden Zustand versetzen müssen. Denn nicht nur sind Lebensmittel und Medikamente von den Sanktionen eigentlich ausgeschlossen, der Sicherheitsrat hat durch seine Resolution 706 auch den beschränkten Verkauf von Öl erlaubt, weil er zur Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten unter UN-Aufsicht beitragen soll. Saddam Hussein jedoch stapelt lieber die eingeflogenen Medikamente und weigert sich, Öl für Lebensmittel zu geben – mit dem Argument, die Resolution 706 verletze die Souveränität des Irak (die ihm natürlich, wenn es um sein eigenes Überleben ging, keinen Pfifferling wert war). Die Vereinten Nationen sandten massenhafte Inspektionsteams nach Bagdad, um die Zerstörung von Massenvernichtungsmitteln zu überwachen, wie es Resolution 687 vorschreibt. Aber man unternahm absolut nichts, um die Verurteilung eines Volkes zu Hunger und Elend durch seinen eigenen Präsidenten (und dessen Mißachtung der Resolution 706) zu verhindern.

Dabei sind Oppositionspolitiker der Meinung, Saddam würde kapitulieren, wenn der Sanktionsausschuß drohte, die Ölverkaufserlaubnis an Jordanien (Wert: 700 Millionen US-Dollar pro Jahr) wieder rückgängig zu machen; dies sei nämlich Saddams größte verbleibende Devisenquelle. Anstatt jedoch Druck auszuüben durch die ökonomische Daumenschraube, scheint die UN Saddam durch großzügiges Übersehen des Schmuggels aus Jordanien für seine Unverschämtheiten noch belohnen zu wollen. Jordanien, und inzwischen auch die Türkei – die aus eigenem Interesse für die Aufhebung von Sanktionen argumentieren – sind seine Hauptkomplizen im Unterlaufen des Sanktionsregimes.

Mit der unfreiwilligen Komplizenschaft der Vereinten Nationen werden so durch die Sanktionen sehr viel mehr die Normalbürger des Landes getroffen als das Regime selbst. Vier Jahre nach der Invasion Kuwaits hat Saddam seine Militärmaschine zu etwa 90 Prozent wiederaufgebaut. Zwar sind UN-Inspektoren der Meinung, daß sie seine Langstreckenraketen, nuklearen und chemischen Waffen zerstört haben, aber sie geben zu, daß selbst das rigoroseste Überprüfungssystem nicht absolut wasserdicht ist für jemanden wie Saddam, der – und das bezweifelt wohl niemand – es vor allem unterlaufen will. Hinzu kommt, daß die traditionell guten Beziehungen zwischen Irak und dem russischen Militärestablishment schon wieder befürchten lassen, daß womöglich spaltbares Material ins Land kommt – für ein Atomprogramm, das immer schon weiter war, als die westliche Spionage mutmaßte.

Trotz alledem – und trotz der Tatsache, daß das Funktionieren der Sanktionen im Irak in Europa mystifiziert wird – könnte das Ölembargo bereits im nächsten Frühjahr aufgehoben werden. Falls das geschieht, wird Saddam das Geld nicht etwa zur Ernährung der verarmten Bevölkerung benutzen – die dient ihm höchstens als Propagandawaffe –, sondern zum Wiederaufbau der „Republik der Angst“, von der sein eigenes Überleben abhängt. Die Intervention der internationalen Staatengemeinschaft wird wenig erreicht haben. Sie hat ihm nur fürs erste die Möglichkeit genommen, Israel, Kuwait oder Saudi-Arabien – das gleichzeitig mit Iraks Entwaffnung heftig neu aufgerüstet wurde – zu bedrohen. In Richtung Frieden und Demokratie ist man in dieser Region keinen Schritt weitergekommen.

Von Anfang an hätte die Aufhebung der Sanktionen an die Durchführung sämtlicher UN-Resolutionen, nicht nur die Abrüstungskontrolle, gebunden werden müssen. Der nachträgliche Hinweis auf Menschenrechte ist nicht nur eine zusätzliche Beleidigung für die irakische Bevölkerung, die unter der zweifachen Geißel Saddams und der Sanktionen leidet, er gibt auch denen recht, die immer schon meinten, daß dem Westen ein arabisches Menschenleben wenig wert sei – und die USA beschuldigen, die UN für ihre ganz eigenen Zwecke nach Kuwait geholt zu haben.

Der Irak kann nicht für immer im Zaum gehalten werden – und die Iraker können nicht auf ewig Opfer von Sanktionen bleiben. In den Monaten, die noch bleiben, bevor Saddam wieder zu Geld kommt – dem einzigen, was er jetzt noch braucht, um seine Tyrannei auf den Vorkriegsstand zu bringen –, muß in Richtung Menschenrechte mehr passieren als Sonntagsreden. Es geht darum, dem unsinnigen Sanktionsregime wenigstens ein bißchen Sinn abzuringen, ein Kriegsverbrechertribunal einzuberufen, das Saddam Hussein als Paria verurteilt. In den kurdischen Gebieten liegen tonnenweise Dokumente bereit, die Beweise für seine Verbrechen gegen die Menschlichkeit enthalten.

Wenn die derzeitige Verwirrung anhält, wenn Washington Sanktionen fordert und gleichzeitig ruhig hinnimmt, daß sie unterlaufen werden, werden die Vereinten Nationen am Ende genauso schuldig dastehen wie Saddam Hussein selbst, – schuldig der totalen Gleichgültigkeit gegenüber den Nöten der irakischen Bevölkerung.

Julie Flint ist freie Journalistin und publiziert besonders über den Nahen Osten