Nullösungen

Die neue Macht der NGOs und ihr Ruf nach dem Militär  ■ Von Alex de Waal

Seit mindestens drei Jahren schon hört man humanitäre Hilfsorganisationen nach militärischer Intervention rufen in Bosnien, Somalia, Ruanda und anderswo. Menschenrechtsorganisationen und die mit praktischer Hilfe vor Ort Beschäftigten bestürmen die Vereinten Nationen oder einzelne westliche Länder, Truppen in Krisen- und Katastrophengebiete zu entsenden. Was heute schon fast normal ist, war vor fünf Jahren noch absolut undenkbar.

Ich möchte mich mit den Gründen für diese dramatische Veränderung im Denken und Handeln der humanitären Organisationen beschäftigen und danach fragen, ob ihre Analyse- und Politikfähigkeit mit ihrer neuen Macht Schritt gehalten hat. Dabei möchte ich mich auf die Regionen Zentral- und Nordostafrika konzentrieren, die den zweifelhaften Ruf haben, weltweit an der Spitze aller politisch bedingten humanitären Krisen zu stehen – sowohl was ihre Dringlichkeit als auch die Komplexität ihrer Problematik betrifft.

In der Zwangsjacke – Äthiopien

Bis vor kurzem operierten alle Hilfsorganisationen innerhalb klar umrissener Grenzen, wie sie die politische Teilung der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert hatte. Wohltätige Hilfsorganisationen – oder, wie sie sich selbst lieber nennen, nicht regierungsgebundene (non-governmental) Organisationen (NGO) – hatten sich an die Spielregeln souveräner Regierungen zu halten, was in allererster Linie bedeutete, keinerlei politische Positionen zu beziehen oder Meinungen zu äußern. Wer die Regeln verletzte, mußte damit rechnen, aus dem jeweiligen Land hinausgeworfen zu werden.

Als Konsequenz aus der damit einhergehenden Entpolitisierung von humanitärer Hilfe wurde immer häufiger auf das Begründungsmodell „Naturkatastrophe“ für Notstände zurückgegriffen. Hatte eine Regierung seine eigenen Bürger durch Korruption, Unfähigkeit oder brutale Niederschlagung von Aufständen in Hunger und Elend gestürzt, hieß es dennoch: das Klima ist schuld.

Die äthiopische Hungerkatastrophe von 1983 bis 85 ist wahrscheinlich eines der erfolgreichsten Beispiele hierfür: eine Hungerkatastrophe, die zu größten Teilen auf militärisches Kalkül und stalinistische Bevölkerungspolitik zurückzuführen war, mutierte zu Trockenheit und ökologischer Krise. Selbst die Statistiken über Niederschläge wurden zunächst zurückgehalten und anschließend verfälscht. Die meisten NGOs schluckten die Kröte – und auch wer die Lüge durchschaute, meinte, daß öffentlicher Widerspruch am Ende nur auf Kosten der Hungernden ginge und ihnen so die notwendige Hilfe entzöge.

Das Problem besteht darin, daß in ganz Afrika die in derartige politische Zwangsjacken gepreßten Hilfsprojekte am Ende wenig erfolgreich waren. Die Literatur über die letzten zehn Jahre humanitärer Hilfe in Afrika bietet kaum Analysen, statt dessen Verklärungen. Allein die Kriterien der Erfolgsmessung hätten schon seinerzeit jeden britischen Kolonialbeamten in Indien vor Scham im Boden versinken lassen müssen. Studien über Sterblichkeitsraten auf dem Lande während einer Hungerkrise kann man an einer Hand abzählen, und Studenten, die sich mit solchen demographischen Fragen in Hungerkrisen beschäftigen, rät man, zur Verifizierung ihrer Thesen indische Statistiken des 19. Jahrhunderts heranzuziehen. Dennoch wird langsam, aber sicher ein schockierendes Bild sichtbar, das die Unfähigkeiten und Verschleierungstaktiken jener Jahre deutlich macht. Es hat ein paar wenige wirkliche Erfolge gegeben, vor allem, was die schnelle Nothilfe in Flüchtlingslagern betrifft. Die traurige Wahrheit ist jedoch, daß die riesigen Hilfslieferungen nach Afrika im vergangenen Jahrzehnt einen nicht unbeträchtlichen Beitrag zur Institutionalisierung von Gewalt geleistet haben.

Äthiopien ist ein Beispiel dafür, und inzwischen wird kaum noch ernsthaft in Frage gestellt, daß der massive Zufluß von Hilfslieferungen weniger zur Rettung der hungernden Landbevölkerung als zum Überleben der äthiopischen Regierung beigetragen hat – deren Militärs die Hauptverantwortung für die Hungerkatastrophe trugen. Große Mengen internationaler Nahrungsmittellieferungen wurden für die Miliz der Regierung abgezweigt, und der stetige Fluß von Hilfslieferungen erlaubte der Armee die Aufrechterhaltung von Garnisonsstützpunkten, die sonst hätten aufgegeben werden müssen. Zudem hielten die Lieferungen Wege offen, die dem Militär die Versorgung der Front ermöglichten. Lebensmittelverteilungen ließen junge Männer aus ihren Verstecken auftauchen, die dann sofort zwangsweise rekrutiert wurden. Und was vielleicht das Schlimmste war: mit den Hilfsprogrammen konnte sich die Regierung ein humanitäres Mäntelchen umhängen. Während ihre Soldaten die Grundlage der landeseigenen Landwirtschaft zerstörten und die Bauern des Landes zwangen, bei internationalen Hilfsorganisationen um Essen anzustehen, heimste die Regierung Komplimente dafür ein, daß sie den internationalen Helfern das Helfen erlaubte.

Die Regierung von Mengistu Haile Mariam entwickelte sich zur Meisterin in der Manipulation humanitärer Propaganda. Sie erkannte bald, daß die internationale Presse sich mehr um die knapp zehn Prozent der täglichen Lebensmittelration kümmerte, die von internationalen Hilfsorganisationen ins Land gebracht wurden, als um die 90 Prozent, die das Volk weiterhin durch eigene Anstrengungen erzeugte. Indem eine schutzlos und bedürftig gewordene Bevölkerung auf diese Weise sowohl der Armee als auch den Hilfsorganisationen ausgeliefert wurde, konnte humanitäre Hilfe als Instrument der Aufstandsbekämpfung benutzt werden.

Die Alternative hierzu bestand für die NGOs darin, in den Gebieten zu arbeiten, die von den Aufständischen der Befreiungsbewegung gehalten wurden. Das bedeutete jedoch einige Opfer. Das erste bestand darin, von nun an als „Solidaritätsorganisation“ zu gelten und damit als irgendwie weniger professionell als die anderen Organisationen, die sich auf eine „operationale Präsenz“ zurückzogen. Vielleicht noch entscheidender war, daß man sich damit um Publicitychancen brachte, da sich in den letzten zwei Jahren des Konflikts kein Fernsehjournalist in die Gebiete der Aufständischen wagte. Für mindestens eine amerikanische NGO war dies das ausschlaggebende Argument gegen einen Einsatz, und bis zum Ende des Krieges konnte sich keine der größeren Hilfsorganisationen zu dieser Alternative durchringen.

Die weitsichtigeren unter den Angestellten der NGOs durchschauten das Schmierentheater, und Ende der achtziger Jahre begann eine sehr offene Diskussion über den Mißbrauch von Hilfe für militärische Zwecke. Leider wurde die Debatte jedoch schon nach kürzester Zeit von einem vergleichsweise kleineren Problem dominiert: dem der Regierungskontrolle über die Hilfsgüter und der damit verbundenen Möglichkeit, die Zivilbevölkerung in den von Aufständischen gehaltenen Gebieten vom Güterzufluß abzuschneiden. Man beschäftigte sich mit Fragen wie: Welche Seite soll Hilfe kriegen, wie kann man Hilfsgüter über Kampflinien transportieren? Die zentrale Problematik, daß Hilfsgüter überhaupt nur eine Marginalie in der Versorgung der Bevölkerung sind, wurde jedoch nie offen ausgesprochen. Das kann einen nicht weiter verwundern, denn natürlich hatten alle Beteiligten an der Aufrechterhaltung ihrer eigenen Institutionen das größte Interesse. Weniger Hilfe zu schicken, war ein absolutes Tabu, und auch der Notwendigkeit, Regierungen zu wesentlichen Änderungen ihres militärischen Kalküls zu zwingen, widmete man nur ein paar schöne Worte.

Verletzung der Souveränität – Sudan

Eine Pseudolösung für diesen Humanismus in der Zwangsjacke fand man im April 1989 mit der Operation Lifeline Sudan im südlichen Teil des Landes. Es war der erste Durchbruch zur Verletzung der Souveränität eines Staates im Namen humanitärer Hilfe für die Zivilbevölkerung aller kriegsbeteiligten Seiten. Die sudanesische Regierung, die damals schon mit den Rebellen der Sudanesischen Volksbefreiungsarmee SPLA Friedensverhandlungen aufgenommen hatte, akzeptierte den Plan. Die Hilfsgüter flossen ins Land, die Hungerkatastrophe wurde abgewendet. Für den guten Ausgang machte man die Hilfsaktion verantwortlich, und in den folgenden fünf Jahren galt Operation Lifeline Sudan als leuchtendes Beispiel für eine Aktion, bei der alle Seiten des Konflikts Hilfsgüter erhielten.

Die Wahrheit sieht jedoch anders aus. Vor Ort nämlich war der entscheidende Faktor ein Waffenstillstand, der es den Bauern ermöglichte, Äcker zu bestellen und Schlachtvieh auf den Markt zu bringen. Als Ende 1989 der Waffenstillstand gebrochen wurde, nahm die Operation Lifeline Sudan einen ziemlich anderen Kurs. Wie schon zuvor in Äthiopien wurden die Nahrungsmittel zur Aufrechterhaltung der Kampfstärke der Militärs genutzt. Und auch hier konnten sich Generäle mit dem humanitären Mäntelchen schmücken. Viele internationale Milliarden sind von einer humanitären Operation geschluckt worden, die in Wirklichkeit mehr Soldaten als deren potentielle Opfer ernährte. World-Food-Programme, US-Aid und eine Reihe weiterer NGOs wurden zum Zahlmeister der SPLA. Ganze Regierungsgarnisonen leben von internationaler Nahrungsmittelhilfe. Genaue Zahlen für die Wirksamkeit des Programmes darüber hinaus oder über den proportionalen Anteil solcher Abzweigungen kennt niemand, da keine unabhängigen Studien hierfür existieren. Der Krieg ist derweil in eine permanente Pattsituation geraten.

Im Süden des Sudan hat sich der tätige Humanismus eine neue Zwangsjacke auferlegt. Die Hilfsorganisationen könnten sich zurückziehen, würden damit jedoch das Leiden der Menschen in den Kriegsgebieten sofort und entscheidend vergrößern. Viele Zivilisten sind von Hilfsgütern aus der Luft abhängig, Soldaten würden, sobald sie nichts mehr zu essen bekommen, plündern um sich zu ernähren: ein Dilemma, für das es keine Lösung gibt.

Erst jetzt wird auch von den NGOs langsam akzeptiert, daß die Operation Lifeline Sudan nicht ganz der Erfolg ist, als der sie bisher dargestellt wurde. Aber diese Erkenntnis setzt sich zunächst nur auf privater Ebene durch. Die große Politik wird weiterhin in einem empirischen und analytischen Vakuum von den leitenden Angestellten der Organisationen gemacht, die sich – und zwar nicht nur öffentlich – mit einem undurchdringlichen Panzer moralischer Selbstgerechtigkeit umgeben haben.

Ohne Souveränität – Somalia

Das nächste Stadium in der Entwicklung der Hilfsorganisationen kann an Somalia studiert werden, einem Land, in dem sich seit Anfang 1991 die Zentralregierung vollkommen auflöste. Die Hilfsorganisationen sahen sich einer Situation gegenüber, die sie noch nicht kannten: einen souveränen Staat gab es nicht mehr. Tatsächlich war Somalia dabei nur die Fortsetzung eines Trends, der seit einiger Zeit offensichtlich war, zum Beispiel auch in Mosambik. Somalia aber wurde zum sprichwörtlichen Fall.

Die Institutionen der Vereinten Nationen und bilaterale Körperschaften wie US-Aid hatten eine klare Antwort auf die somalische Krise: Sie zogen sich zurück und legten die Hände in den Schoß. Eine Handvoll internationaler NGOs blieb vor Ort, und in Mogadischu wurden sie nicht nur zu den einzigen Versorgungsinstitutionen für medizinische Hilfsgüter und Kindernahrung, sondern auch die einzige Verbindung zur internationalen Öffentlichkeit überhaupt. Da es keine Polizei mehr gab, mußten sie selbst für Sicherheit sorgen, und ohne Gesundheitsministerium konnten sie ihre eigene Gesundheitspolitik formulieren. Das alles bedeutete sowohl enorme Schwierigkeiten als auch einen Segen. Die Angestellten der Hilfsorganisationen übernahmen die Aufgabe von Diplomaten, Sicherheitsexperten, Nachrichtenagenturen und politischen Beratern – und mußten nebenbei noch ihren eigentlichen Job machen. Es war zum Fürchten – aber auch faszinierend.

Die Macht der vor Ort gebliebenen NGOs vergrößerte sich noch durch die internationalen Medien. Journalisten, die zur Berichterstattung nach Somalia einflogen, übernachteten bei den Hilfsorganisationen und machten unter ihren Fittichen ihre Rundfahrten, verwendeten ihre Analysen und Prognosen, zitierten sie als Quellen und verhalfen ihnen dadurch zu einer beispiellosen Öffentlichkeit. Über die symbiotische Beziehung westlicher Medien und ihren Lieblingshilfswerken ist schon viel gesagt worden; in Somalia erreichte sie einen neuen Höhepunkt. Mancher Journalist gab zu, daß er das Bildmaterial so aussuchte, daß vor allem das menschliche Elend an den Lebensmittelausgaben beinahe übertrieben herauskam, die Mängel der Hilfsprogramme jedoch übergangen wurden. Somalia war das Versuchskaninchen für einen Humanitarismus nach dem Kalten Krieg.

Es war das erste Mal, daß das Internationale Rote Kreuz bewaffnete Wächter heuerte. Es war das erste Mal, daß Hilfsorganisationen wie Save the Children Fund öffentlich derartig kritisch Position bezogen und die Abwesenheit der Vereinten Nationen anprangerten. Und es war schließlich das erste Mal, daß internationale Organisationen erfolgreich nach einer westlichen Militärintervention riefen.

Wer hier am lautesten rief, war Care US. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Care-International-Programm seine zentrale Stellung in Somalia verloren. Nach eher konventionellen Kriterien ausgerichtet und mit Personal, das mehr wegen seiner logistischen Erfahrung als wegen diplomatischen Feingefühls und etwaiger Kenntnisse der Situation vor Ort ausgewählt worden war, sah es sich massiven Problemen gegenüber. Das Internationale Rote Kreuz besaß dagegen sehr viel mehr Flexibilität und Einfallsreichtum und konnte, vor allem auch wegen enger Arbeitskontakte zu seiner lokalen Schwesterorganisation Roter Halbmond, sehr viel mehr Nahrungsmittel in sehr viel kürzerer Zeit bewegen. Care jedoch, zudem in Partnerschaft mit dem äußerst unfähigen World-Food-Programme, war in eine Sackgasse geraten.

So kam es, daß der Präsident von Care US, Philip Johnston, den Ruf nach einer internationalen Militärintervention anführte. Längerfristiges Motiv mag dabei gewesen sein, seiner Organisation die Position als führende Hilfsorganisation bei zukünftigen Programmen unter internationalem militärischem Schutz zu sichern. Seine offizielle Begründung hieß denn auch nicht, daß eine Militärintervention Somalia, sondern das Hilfsprogramm von Care WFP retten würde, zumindest, wenn sie ohne größere Mißbräuche und Verzögerungen abliefe. Die automatische Gleichung „erfolgreiches Hilfsprogramm = Sieg über die Hungerkatastrophe“ war den meisten so selbstverständlich, daß keiner anzumerken wagte, der Hunger könne sich womöglich auf andere Weise erledigen und das Care- WFP-Programm würde weiterhin mit seinen eigenen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. So kam es also, daß US-Marines ausgerechnet in der Woche in Somalia landeten, als die Zahl der Hungertoten in Baidoa, dem Epizentrum des Hungers, auf ein Zehntel des Krisenhöhepunkts gefallen war und die Bauern des Shebelle-Tals, dem Brotkorb Somalias, sich auf den Beginn der Ernte vorbereiteten.

Die Vereinten Nationen, das Pentagon und andere Hilfsorganisationen sahen in einer Intervention ebenfalls Vorteile für sich, und zwar in erster Linie ein neues Betätigungsfeld – und das zu einer Zeit, in der Haushaltsmittel eher gekürzt wurden. Die Bürger Amerikas schienen sich außerdem in einer Art moralischer Panik zu befinden, im Niemandsland zwischen einer verlorenen Präsidentschaftswahl und der Inauguration des neuen Präsidenten. Hinzukam, daß es die zeit zwischen Thanksgiving und Weihnachten war, in der die Hilfsorganisationen traditionellerweise den größten Teil ihrer Spenden bekommen, wenn sich das Gewissen der westlichen Nationen auf diese Art und Weise erleichtert.

In erster Linie war der Ruf nach Intervention jedoch eine Verzweiflungstat. Zusammen mit vielen seiner Kollegen war Philip Johnston im Somalia von 1992 schlichtweg auf verlorenem Posten. Gewalt, die er nicht verstand, charakterisierte er als willkürlich, Hirarchien, mit denen umzugehen ihm die Geduld fehlte, nannte er Anarchie.

Die Unfähigkeit von Regierungen armer Länder, gegenüber humanitären Organisationen, die sich in ihren Ländern engagieren, totale Kontrolle auszuüben, eröffnet neue und durchaus aufregende Perspektiven. Theoretisch sollten Hilfswerker nicht mehr zum Stillhalten gezwungen sein, wenn sie Zeugen schwerer Menschenrechtsverletzungen werden. Sie sollten in die Lage versetzt werden, umfassendere Analysen der Situation in den Ländern, in denen sie arbeiten, zu erstellen und ohne Daumenschrauben auch für umfassendere Lösungen sich einzusetzen. Da die Hilfsorganisationen lediglich von den Charity- Commissioners kontrolliert werden, deren Expertise über die meisten afrikanischen Länder nicht groß ist, sollten sie sich wesentlich politischer verhalten können. Und da die meisten dieser Krisen wesentlich politische Krisen sind, müßte dies die humanitären Organisationen von Zwangsjacken befreien, so daß wirklicher Fortschritt möglich ist.

Bisher ist das jedoch nicht geschehen. Zwar drängen ein paar Verantwortliche in diese Richtung, aber gewisse andere Zwänge arbeiten dagegen – und das sind die von den Geldgebern ausgeübten.

Die regierungsunabhängigen Hilfsorganisationen sind im Laufe der letzten 15 Jahre enorm gewachsen – und die Regierungen der westlichen Länder haben sie mehr und mehr zu den Verteilern ihrer Krisenhilfslieferungen gemacht. Das hat viele Gründe. Der erste ist, daß man der bürokratischen Ineffektivität der empfangenden Länder überdrüssig geworden ist. Ein zweiter ist, daß Spenden an westliche NGOs ihnen ein positives Image verschaffen und die in Wahrheit gekürzten staatlichen Hilfsbudgets der öffentlichen Aufmerksamkeit entziehen. Und ein dritter Grund ist, daß Gelder an NGOs viel willkürlicher gehandhabt werden können als an Regierungen, und mit wesentlich weniger Formalien belastet sind. Das ist zwar einerseits durchaus positiv, da es die Reaktion auf Krisen flexibler und schneller macht, aber ein wichtiges Element der Berechenbarkeit wird dadurch ausgeschaltet – es gibt keinerlei Verpflichtung zur Hilfe. Falls eine bestimmte NGO in einem Land anwesend ist, dann hat dieses Land eben Glück gehabt. NGOs sind jedoch zur Anwesenheit nicht verpflichtet.

Aus der Perspektive der NGOs bedeutet diese Entwicklung, daß sie heute eng an Regierungen gebunden sind, die bei Krisen Hilfsgüter spenden. Manche versuchen sich zu helfen, indem sie ein Maximum setzen, das ihren Haushalt proportional von Staatsgeldern abhängig macht; im Falle einer akuten Krisensituation jedoch sind solche Beschränkungen theoretisch. Die Folge ist, daß die Krisenmanager der NGOs ständig gezwungen sind, sich in die Gedankenwelt der Spender zu versetzen, um erfolgreich Geld lockerzumachen. So kann es passieren, daß eine Hilfsorganisation, die radikale Entwicklungsprojekte vor Ort fördert, in ihrer Krisenpolitik extrem konservativ agiert. Tatsache ist, daß es keine radikalen Hilfswerke gibt.

Von großer Wichtigkeit sind auch die Appelle an die Öffentlichkeit. Die meisten Hilfsorganisationen – und mit ihnen viele Journalisten – sind der Meinung, daß nur eine bestimmte Art von Sentimentalisierung die Sympathien der Öffentlichkeit und damit Geld mobilisiert. Die Beschreibung der Situation wird auf ein immer gleiches Modell reduziert: das hilflose Opfer, der böse Gangster/Kriegsherr, der Retter – wobei letzterer garantiert weiß ist. Der einzige Fortschritt ist, daß heute das Klima nicht mehr den bösen Buben spielen muß.

Oxfam steht für Gerechtigkeit

Nach wie vor ist die praktische Hilfe Kern des humanitären Engagements der NGOs, aber sie haben auch versucht, ihr Mandat auf die gesamte von ihnen angetroffene Situation auszuweiten. Die zwei entscheidenden Begriffe hier sind Frieden und Menschenrechte – allerdings sind beide weiterhin der direkten Hilfe strikt untergeordnet. Als Oxfam seine Kampagne mit dem Slogan „H steht für Hunger, Oxfam für Gerechtigkeit“ führte, war damit nicht etwa gemeint, daß alle Programme von nun an nach Kriterien des Menschenrechts ausgewählt werden sollten, und man wollte auch nicht etwa anfangen, für Menschenrechte direkt einzustehen. Dennoch versichert einem noch jeder Oxfam-Mitarbeiter, daß Menschenrechte das Herzstück der Oxfamprinzipien seien. Auch Frieden ist zu einem selbstverständlichen Wortbeiwerk geworden – auch wenn keine der NGOs, und wenn sie sich noch so sehr als pazifistisch versteht, klare Regeln für die Arbeit in Kriegsgebieten aufgestellt hat. Hier macht nur das Internationale Rote Kreuz eine Ausnahme.

Der Trend zu einem ausgeweiteten Mandat kommt auch von außen. Je mehr sich westliche Regierungen aus den armen Ländern Afrikas zurückgezogen haben, desto mehr haben sie versucht, die NGOs zu Instrumenten ihrer Politik zu machen. Die Analysen und Meinungen der NGO-Mitarbeiter – oft genug junge, unerfahrene Leute – werden gerne eingeholt und hoch bewertet. Da die Länder Afrikas inzwischen keinerlei kommerzielles oder strategisches Interesse mehr erregen können, ist die Hauptsache geworden, durch Unterstützung internationaler NGOs zu Hause einen guten Eindruck zu machen, und menschliches Leid auf einem akzeptablen – das heißt unsichtbaren – Level zu halten. So kommt es, daß die NGOs durch ihre Geberregierungen selbst aufs Feld der Politik gedrängt werden.

Der Unterschied zu früher ist, daß den Hilfsorganisationen keine strikten Grenzen auferlegt werden für die Definition humanitärer Hilfe; das heißt, daß sie sie selbst finden müssen.

Zwei Begriffe helfen ihnen dabei. Der eine heißt „fieldcraft“, also erst einmal sehen, was „vor Ort“ los ist, was oft nichts anderes heißt, als Kompromisse mit den dortigen, nicht selten brutal agierenden Behörden zu machen, um das große Ganze nicht zu gefährden. Für den Verantwortlichen vor Ort heißt das in erster Linie, ein bestimmtes Maß an „Abzweigen“ von Hilfsgütern zu akzeptieren. Dieses Maß ist nirgends festgelegt, und was in der einen Situation akzeptabel ist, ist es in einer anderen vielleicht nicht. Dieses „Vor-Ort- Sehen“ ist ein Hohn auf die Beschwörung des Prinzips Menschenrecht. Ein Verantwortlicher vor Ort ist in der Regel gezwungen, Menschenrechtsverletzungen zu übersehen, um das Programm seiner Organisation nicht zu gefährden und wird so zum stummen Zeugen. Auf dem Gebiet der Menschenrechte ist Konsequenz jedoch alles: Hat eine Organisation öffentlich ihre Verpflichtung zur Aufrechterhaltung der Menschenrechte erklärt, darf sie keinerlei Kompromiß mehr eingehen.

Der zweite Begriff, der das Feld humanitärer Hilfe definieren soll, ist der der Neutralität. Das Internationale Rote Kreuz hat eine äußerst hochentwickelte Neutralitätsdoktrin, die extrem langsamen, komplizierten und teuren Prozeduren folgt. Extreme Diskretion gehört dazu und das Rote Kreuz ist eine der öffentlichkeitsscheuesten Hilfsorganisationen überhaupt. Eines seiner Prinzipien beinhaltet, daß es sich sofort und ohne Kompromiß zurückzieht aus einer Krisensituation, wenn seine Auflagen verletzt werden, selbst wenn die unmittelbaren menschlichen Folgen gravierend sind. Man akzeptiert und weiß, daß jede Hilfsaktion in einer Kriegssituation unweigerlich materielle und moralische Vorteile für die Kombattanten mit sich bringt – weshalb man mit höchst ausgeklügelten Prozeduren jegliche Parteilichkeit in dieser Richtung zu minimieren versucht, was auch zur Geheimhaltung vieler Aktionen beiträgt.

Andere NGOs haben dagegen naiv angenommen, daß man nur eine weiße Fahne an einem Jeep anbringen muß und seine Neutralität erklären, um wirklich als neutral angesehen zu werden. Das ist natürlich völliger Blödsinn. Und da die meisten NGOs auf die Öffentlichkeit ihres Tuns angewiesene Organisationen sind, haben sie weder Geduld noch Geld für die Prozeduren des Roten Kreuzes und würden auch nie die Bedingung der Geheimhaltung erfüllen wollen.

Das heißt allerdings, daß NGO- Operationen fast zwangsläufig parteilich werden. Und das ist nicht nur ein gefährlicher Zustand für die Mitarbeiter vor Ort, die meist Opfer ihrer eigenen humanitären Propaganda sind, sondern auch für die Prinzipien humanitärer Hilfe überhaupt.

Man muß hier operationale Neutralität genau unterscheiden von Objektivität oder prinzipieller Neutralität. Operationale Neutralität heißt, daß man sich nicht auf die Seite einer der Konfliktparteien schlägt und weder mit Worten noch Taten, noch öffentlichen Stellungnahmen Anlaß zur Annahme des Gegenteils gibt. Was das heißt, zeigt wiederum das Rote Kreuz: Es gibt keinerlei Stellungnahme gegen Kriege als solche ab, es verurteilt auch Aggressoren nicht (es sei denn die Aggression ist gegen die eigenen Mitarbeiter gerichtet) und sagt überhaupt wenig.

Andere NGOs halten sich an eine verwässerte Version dessen. Zum Beispiel weigern sie sich, eine Konfliktpartei zu kritisieren, ohne gleichzeitig auch Gründe zur Kritik der anderen zu finden; sie rufen auf zu Untersuchung und Bestrafung von Menschenrechtsverletzungen, ohne die Täter zu nennen. Operationale Neutralität bedeutet für sie, keine Namen nennen zu können – und das ist in vielen Fällen sicher richtig, weshalb Menschenrechtsorganisationen, die ihren Sinn in der Weckung des öffentlichen Gewissens sehen, niemals in solch eine Lage kommen dürfen. Prinzipielle Neutralität oder Objektivität bedeutet, daß man die Konfliktparteien mit gleichem Maß mißt. Und das ist es, was Menschenrechtsorganisationen tun müssen. Das heißt aber nichts anderes, als daß die eine Seite unter Umständen sehr viel heftiger kritisiert werden muß als die andere, da die eine Regierung oder Armee eben übler ist als die andere. Im extremen Fall hat die eine Seite sich vielleicht eines entsetzlichen Verbrechens, zum Beispiel eines Genozids, schuldig gemacht, die andere jedoch nicht – was heißt, daß gegen nur eine Seite schwerwiegende Maßnahmen ergriffen werden müssen. Eine Menschenrechtsorganisation, die sich nicht an dieses Prinzip hielte und statt dessen ihre Kritik „ausgewogen“ vorbringt, macht sich der Doppelmoral schuldig und wäre parteiisch – sie schlüge sich damit auf die Seite der Verbrecher.

Der Preis der Objektivität kann also durchaus der Verzicht sein, in einem bestimmten Land oder Gebiet zu arbeiten. Eine Menschenrechtsorganisation muß das Risiko eingehen, in einem Land jederzeit zur persona non grata erklärt zu werden.

Das Problem derjenigen Hilfsorganisationen, die versucht haben, nach Menschenrechtsprinzipien zu arbeiten, ist, daß sie riskieren, die beiden Arten von Neutralität zu verwechseln und am Ende keiner von beiden zu genügen. Ein Ausweg aus diesem Dilemma ist, in Panik zu geraten und nach militärischer Intervention zu rufen.

Das Dilemma der „Objektivität“

Der Massenmord an der politischen Opposition und Völkermord in Ruanda stellte eine extreme Herausforderung für die Hilfsorganisationen dar. Der traditionelle Weg, nämlich Hilfsgüter einzufliegen und nicht lange zu fragen, bei wem sie landen, hätte sie zu Komplizen der Massenmörder gemacht, denn natürlich wäre die Masse der Hilfslieferungen direkt an die Armee und Interahamwe (Jugend)Miliz gegangen, die für den größten Teil der Morde verantwortlich war. Tatsächlich wurde dies jedoch nicht zum Problem, da in Ruanda selbst kaum signifikante Hilfsaktionen in den regierungskontrollierten Gebieten anliefen, solange die Massaker andauerten. Allerdings geschah dies in Flüchtlingslagern, in denen die tatsächliche Kontrolle nicht selten von denen ausgeübt wurde, unter deren Kommando der Völkermord stattgefunden hatte.

Ruanda präsentierte einen extremen Konflikt zwischen operationaler Neutralität und menschenrechtlicher Objektivität. Die Regierung hatte sich des Völkermords schuldig gemacht, die aufständische Patriotische Front Ruandas (RPF) nicht. Der Völkermord war zudem sorgfältig geplant worden, und alle Institutionen der Regierung standen hinter der Regierungspolitik der Massaker. Die Konvention zum Völkermord wie jedes moralische Argument überhaupt führte zu dem Schluß, daß die Regierung Ruandas verurteilt und geschlagen werden mußte und die Architekten des Völkermords vor Gericht gestellt gehörten für Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Eine der NGOs, die öffentlich und deutlich dazu Stellung bezog, fand sich bald in der Falle dieses Dilemmas wieder. Es war Oxfam. Andere NGOs äußerten sich ähnlich, aber ich möchte mich hier vor allem mit Oxfam näher beschäftigen, um den Charakter des Problems möglichst deutlich zu machen.

Ende April, nachdem das Morden schon drei Wochen lang dauerte, nannte Oxfam sie öffentlich Völkermord. Für eine Organisation, der Menschenrechte am Herzen liegen, war klar, was das zu bedeuten hatte: Die Schuldigen mußten genannt und keine Mühe gescheut werden, sie vor Gericht zu bringen. Aber Oxfam ist auch eine direkt vor Ort agierende Hilfsorganisation, deren Expertise die Versorgung von Flüchtlingslagern mit sicheren Wasservorräten einschließt und deren Gelder zustande kommen durch Bitten um Spenden für direkte humanitäre Hilfe.

In den Flüchtlingslagern waren nicht wenige Männer, die für die Massaker verantwortlich gewesen waren. Die Leute von Oxfam waren der Meinung, daß sie nicht einerseits bestimmte Menschen als internationale Verbrecher namentlich nennen und gleichzeitig für sie oder gar mit ihrer Kooperation humanitäre Hilfe leisten konnten.

Damit hatte Oxfam sein Mandat erweitert, ohne vorher die Implikationen dessen genau zu bedenken. Jetzt mußte das Hilfswerk sich zwischen widerstreitenden Prioritäten entscheiden. Seine Lösung war, das Thema Völkermord zu verwässern. Das geschah auf zweierlei Weise. Die erste war, eine Untersuchung durch die Vereinten Nationen zu fordern und gleichzeitig sich zu weigern, selber Namen zu nennen. Wenn man bedenkt, wie groß Kenntnis und moralische Autorität von Oxfam vor Ort sind, kann man sich vorstellen, welch enorme Enttäuschung das für die Menschen Ruandas war, die nach einer international glaubwürdigen, moralischen Autorität suchten. Der zweite Mißgriff war, eine internationale Militärintervention zur Beendigung des Völkermords zu fordern, eine Position, die zutiefst verfehlt war. Denn erstens ging diese Forderung davon aus, daß hierzu keine wirksame Alternative bestand, und zweitens, daß dies tatsächlich eine Lösung wäre. Einige Verantwortliche erkannten gleich, daß weder das eine noch das andere stimmte. Die Organisation gab sogar öffentlich zu, daß sie nicht meinte, die Massaker könnten alleine durch Truppen der Vereinten Nationen gestoppt werden. Aber die Gesamtwirkung ihrer öffentlichen Forderung war die, daß die ruandische Katastrophe wahrgenommen wurde als nur durch internationale Truppen lösbar.

Interventionsdebatte überschattet alles

Das größte Problem einer militärischen Intervention ist, daß sie, sobald sie ins Auge gefaßt wird, sie die gesamte Diskussion wie eine große schwarze Wolke überschattet und den Blick auf jede Notwendigkeit und Möglichkeit anderer Formen internationaler Initiative verstellt. Schon in Somalia und Bosnien hatte es hochnotwendige Initiativen auf ziviler Ebene gegeben, die versäumt wurden, weil die blindwütige Debatte über Truppen alles beherrschte.

Und so kam es, wie es kommen mußte. Die Präsenz der Soldaten löste die Probleme nicht, sondern veränderte sie nur. Und trotzdem, selbst nach solchen Debakeln, wird immer noch die militärische Intervention als der Weisheit letzter Schluß gesehen.

Dabei hätte es auch in Ruanda Alternativen gegeben. Der Völkermord war geplant und ausgeführt worden von einer Gruppe wohlbekannter politischer Extremisten. Diese Männer hatten, nachdem sie die mörderische Maschine in Gang gesetzt hatten, auch die Macht, sie zu stoppen. Man hätte das zu erzwingen versuchen können durch eine ganze Reihe diplomatischer und moralischer Sanktionen: weltweit hätten die Botschafter Ruandas herausgeworfen, Ruandas Vertreter aus dem Sicherheitsrat entfernt, öffentlich die Mordverantwortlichen der Interimsregierung benannt und sie mit Verfolgung bedroht werden können, wenn die Massaker nicht sofort aufhörten. Aber aus Gründen der diplomatischen operationalen Neutralität versuchten weder die UN noch irgendein Land eine dieser Maßnahmen. Der Vertreter Ruandas saß sogar gleichzeitig im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, und der Außenminister der Übergangsregierung hielt höchstpersönlich eine extrem rassistische Rede dortselbst. Das Verhalten der Vereinten Nationen war das glatte Gegenteil von moralischer Führung.

Die Option Militärintervention durch die UN nach den inzwischen etablierten Prinzipien unterstellte auch, daß die totale Anarchie in Ruanda herrsche. Damit ging das Kalkül der Völkermordarchitekten auf, die genau diesen Eindruck hervorrufen mußten, um ihr Verbrechen zu decken: der Welt die Massaker als „spontane ethnische Gewalt“ zu präsentieren. Zusätzlich zeigten diese Extremisten durch den Mord an zehn belgischen UN-Soldaten am 7. April, daß sie zur militärischen Konfrontation bereit waren, so daß eine UN-Truppe wußte, sie würde sich auf Tote gefaßt machen müssen.

Erstaunlich ist dennoch, bei allem, was man über den Mißerfolg von Friedensmissionen der Vereinten Nationen wußte, warum so etwas hier einmal wieder als „Lösung“ figurieren konnte.

Die andere Option wäre gewesen, eine „einheimische“ Militärlösung zu suchen, das heißt, sich für den Kampf der internen Opposition gegen das völkermörderische Regime einzusetzen. Damit wäre man dem Problem aus dem Weg gegangen, die eigene operationale Neutralität für eine praktische Menschenrechtsobjektivität opfern zu müssen.

Tatsächlich wurde der Völkermord gestoppt durch die militärischen Erfolge der RPF. Sie waren an den Massakern nicht beteiligt, und ihr Vormarsch bewirkte ein Ende der Massenmorde, und zwar schneller, als jede UN-Interventionstruppe es zuwege gebracht hätte. Und dennoch forderten sowohl die Vereinten Nationen als auch die meisten internationalen Hilfsorganisationen permanent einen Waffenstillstand – dies aus Gründen der operationalen Neutralität. Aber ein Waffenstillstand wäre den Wünschen der Mörder entgegengekommen; es wäre eine Chance gewesen, ohne Störung mit dem Morden fortzufahren. Als die RPF im Mai einen 96stündigen Waffenstillstand erklärte, ging das Morden in der Tat weiter. Tatsächlich gab es keine Beziehung zwischen dem Waffenstillstand und dem Ende der Massaker. Aber ein Waffenstillstand hätte den Massenexodus nach Zaire aufhalten können. Die Flüchtlingskrise war gewissermaßen eine eindeutig humanitäre Krise, in der eindeutige Maßnahmen erforderlich waren: Lebensmittel, sauberes Wasser und medizinische Hilfe. NGOs hatten mit dieser Art Krise Erfahrung und im Prinzip auch eine – zumindest von ihnen selbst akzeptierte – Pflicht zu helfen. Oxfams Position jedoch war praktisch gesehen eine Verhinderung dieser Krise auf Kosten eines Massenmordes genozidalen Ausmaßes.

Der Vormarsch der RPF muß dagegen als humanitäre Intervention erscheinen – wurde jedoch nicht als solche anerkannt, da die RPF eben Konfliktpartei war und damit nicht operational neutral. Trotz allem war sie natürlich, als einzige Kraft, die den Völkermord stoppen konnte, moralisch zum Eingriff verpflichtet. Man kann sogar argumentieren, daß sie als Teil der Regierung nach dem Friedensabkommen von 1993 gar gesetzlich verpflichtet war dazu, nämlich in Akzeptanz der Völkermord-Konvention, die von Ruanda unterzeichnet wurde.

Den Vormarsch der RPF zu unterstützen, weil das der schnellste und effektivste Weg zur Beendigung des Massenmords war, impliziert nicht, die RPF von jeglichen Menschenrechtsverletzungen freizusprechen oder sich zu weigern, sie für bestimmte Elemente ihrer vergangenen oder gegenwärtigen militärischen, sozialen und Menschenrechtspolitik zu kritisieren. Es impliziert lediglich die Anerkenntnis, daß der Vormarsch der RPF das einzige Mittel war, mit dem die internationale Staatengemeinschaft ihrer Verpflichtung nachkommen konnte, das Verbrechen des Völkermords zu beenden und zu bestrafen.

Eine Militärintervention der Vereinten Nationen hätte lediglich bei gleichzeitigem Waffenstillstand am Ort der Intervention ins Werk gesetzt werden können. Es ist dabei höchst unwahrscheinlich, daß die Truppen der Vereinten Nationen den Genozid effektiv hätten beenden können. Denn weder hätte sie Tote in den eigenen Reihen riskiert, noch hätte sie ihre operationale Neutralität gefährden wollen durch eine Konfrontation mit der ruandischen Armee. Die Fortsetzung des Mordens wäre sicher gewesen, und außerdem hätte die Intervention den Mördern gewissermaßen Straffreiheit gegeben – denn man kann nicht Politiker vor Gericht stellen, mit denen man gerade ein Abkommen aushandelt.

Um seine eigene operationale Neutralität nicht zu gefährden, hat Oxfam für diese Alternativen nicht geworben. Wäre eine UN-Truppe losgeschickt worden und hätte sich verhalten wie hier unterstellt, wäre auch Oxfam wahrscheinlich unter ihren Kritikern gewesen. Und als die französische Regierung – Ruandas hauptsächlicher Waffenlieferant und diplomatischer Alliierter – im Juni eine unilaterale Intervention vorschlug, sprach Oxfam sich dagegen aus. Zwar war das durchaus richtig, aber die französische Armee hätte ganz legitimerweise sagen können, wie es auch die US-Soldaten in Somalia taten, daß eine Hilfsorganisation, die eine Militärintervention fordert, sich anschließend schlecht darüber beschweren kann, daß Militärs nach der Logik der Militärs vorgehen.

Obwohl Oxfams Verhalten in dieser Krise seine spezifischen Ziele nicht erreichte, so muß man doch immerhin zugestehen, daß die Organisation für sich verbuchen konnte, mehr internationale Aufmerksamkeit für Ruanda hergestellt zu haben. Aber dieses Ereignis sollte die Verantwortlichen bei Oxfam und anderen NGOs, die sich in ähnlich gravierender Weise äußern wollen, nachdenklich machen. Man kann nicht einfach solche Verpflichtungen eingehen und sie je nach Laune als lästigen Ballast wieder abwerfen.

Desorientierung nach dem Kalten Krieg

Der Fall Oxfam in Sachen Ruanda ist so augenfällig, weil die Problematik sich so klar präsentiert. Was sich hier spiegelt, ist – wie vorher in Somalia – die Desorientierung der humanitären Organisationen in einer Welt nach dem Kalten Krieg. Die NGOs haben erfolgreich ihre alte Zwangsjacke abgestreift und ihr Mandat ausgeweitet. Sie haben enorme Möglichkeiten zur politischen Einflußnahme zugespielt bekommen. Die internationale Politik gegenüber afrikanischen Ländern könnte von nun an dominiert werden von der humanitären Politik der NGOs.

Aber weder politische Analysefähigkeit noch Strukturen politischer Rechenschaftspflicht der NGOs haben mit ihren neuen Einflußmöglichkeiten Schritt gehalten. Zwar gibt es interne Diskussionen über diese Fragen, aber sobald die frische Luft öffentlicher Diskussion droht, wird moralisch wieder aufgerüstet und der alte Maulkorb Selbstzensur übergestreift. Nicht nur einmal haben NGOs auf Argumente, wie sie hier vorgeführt wurden, mit Empörung reagiert und jegliche Diskussion verweigert.

Aber es ist genau dieser Kontext, der den Ruf nach militärischem Eingreifen hat laut werden lassen: unbeeindruckt von einer nüchternen und professionellen

Analyse der tatsächlichen Situation, ungehindert von Strukturen der Rechenschaftspflicht und nur Ausdruck eines Gefühls der Panik, daß „etwas getan“ werden müsse – das alles durch „hochintegre“ Organisationen.

Sollten die NGOs weiter straflos nach der militärischen Besetzung eines Landes rufen dürfen? Und sind sie tatsächlich nur einer liebedienerischen und vergeßlichen Presse verpflichtet?

Alex de Waal ist Ko-Direktor von „African Rights“ in London