Ein „Garderobenskin“ vor Gericht

■ Im Prozeß wegen des Brandanschlags auf die Lübecker Synagoge müssen die vier Angeklagten heute zur Sache aussagen / Alle vier stammen aus sozialen Brennpunkten

Schleswig (taz) – Aufgewachsen sind sie alle in Lübecker Stadtteilen, die als soziale Brennpunkte gelten: Die vier Angeklagten im Prozeß wegen des ersten Brandanschlags auf eine Synagoge im Deutschland der Nachkriegszeit. Heute sollen die vier jungen Männer, denen fünffacher Mordversuch zur Last gelegt wird, vor dem Oberlandesgericht in Schleswig zur Sache aussagen. Die Bundesanwaltschaft wirft allen vieren vor, die Lübecker Synagoge aus Haß gegen Ausländer und Juden angezündet zu haben. Gleich am ersten Prozeßtag hatten die beiden jüngsten Angeklagten, Nico T. und Boris Sven H.-M., ihre Tatbeteiligung an dem Anschlag gestanden. Doch nur der 20jährige Nico T. gab bisher zu, ein Skinhead gewesen zu sein. Sein Freund Boris Sven H.-M. (20), erklärte vor Gericht dagegen, „ich war als Skin verkleidet, weil die Sachen gut aussehen“. Der Vorsitzende Richter des Zweiten Strafsenats, Hermann Ehrich, konnte sich einen Kommentar nicht verkneifen: „Ein Garderobenskin also.“ Was „rechts sein“ für ihn bedeute, konnte H.-M. nur kryptisch stammelnd erklären. Im Geschichtsunterricht hätte der Zweite Weltkrieg „keinen guten Eindruck“ auf ihn gemacht. Sein Verteidiger hatte bereits zu Prozeßbeginn auf die „nicht starke Auffassungsgabe“ seines Mandanten hingewiesen.

Die Lebensläufe von drei der Angeklagten gleichen sich: Sonderschule, abgebrochene Lehre, Aushilfstätigkeiten, Heimaufenthalte und Obdachlosigkeit. Alle drei verloren ein Elternteil durch Tod oder Scheidung. Probleme mit Alkohol hatten sie bereits im Alter von 13 bis 15 Jahren. „Ich sah für mich keine Zukunft, da hab ich halt getrunken“, erklärt der Älteste der Angeklagten, der 25jährige Stephan Marcus W., der seinen Bierkonsum mit 20 bis 30 Dosen täglich angibt.

„Ich habe Spielschulden in Höhe von 50.000 Mark“

Verstockt und unsicher antworten alle drei auf die Fragen Ehrichs. Nur der 22jährige Dirk B., der von Anfang an seine Beteiligung am Anschlag in der Nacht zum 25. März abgestritten hatte, schildert seinen Lebenslauf flüssig. Dirk B., der als einziger mit weißem Hemd, Jackett und Schlips im Gerichtssaal auftritt, hat keine Alkoholprobleme. Sein Verhältnis zum Vater ist gut, nach dem Hauptschulabschluß hat er bis heute eine ungekündigte Stellung als Warenhausdetektiv in Hamburg.

Doch das alles ist Fassade. Da ist zum Beispiel die Spielsucht. Seine derzeitigen Spielschulden beziffert B. auf 50.000 Mark. 1990 brach er eine Lehre als Blumen- und Zierpflanzengärtner ab. Er hatte einem Arbeitskollegen Geld gestohlen. Weiteres Geld, mit dem er seine Spielsucht befriedigen konnte, erhielt er von seinem 65jährigen Vater und seiner wesentlich jüngeren Stiefmutter (37), die von der Sozialhilfe leben. „Ich habe meine Familie finanziell ruiniert“, gibt der 22jährige unumwunden zu.

Aus der Bundeswehr wurde B. aufgrund eines Selbstmordversuchs im Herbst 1992 vorzeitig entlassen. Als ob er von einem Fremden spräche, berichtet B., von seiner Einweisung in die Psychiatrie, von drei weiteren Selbstmordversuchen. Einmal sei er aus dem vierten Stock gesprungen: „Mir ist nichts passiert, ich hab' mich selbst gewundert.“ Viel Wert legt der blonde, kurzhaarige Mann darauf, daß er inzwischen sein Leben im Griff habe. Seit Mitte 1993 sei er nicht mehr spielsüchtig, fast ebenso lange arbeite er als Angestellter.

Zu Ausländern hat Dirk B. nach eigenen Angaben ein gutes Verhältnis. Ein griechischer Freund, ein Chef aus dem Iran und viele ausländische Kollegen, „mit denen es keine Probleme gibt.“ Auch Stephan Marcus W., der wie B. seine Tatbeteiligung bestreitet, betont ausdrücklich, daß er während der zwei Jahre bei einer Pflegefamilie mit einen türkischen Pflegebruder zusammengelebt habe. „Mit dem habe ich mich sehr gut verstanden.“

Lediglich die beiden jüngsten mutmaßlichen Brandstifter gaben gleich am ersten Prozeßtag ihre Beteiligung an dem Anschlag zu. Heute werden sie vor dem Zweiten Strafsenat erklären müssen, wie und warum es zu dem Brandanschlag kam. Kersten Kampe