■ Filmstarts à la carte: Habe nie Hölderlin geheißen
Glanz und Elend einer Jahresfilmproduktion im Spiegel der Berliner Filmkritik und nebenbei noch einen Blick auf deren Glanz und Elend ermöglicht das vom tip herausgegebene Filmjahrbuch 1994, das zehnte seiner Art. Beim Durchblättern fällt noch einmal auf, daß man dieses vergangene Jahr, was den Film angeht, für im wesentlichen gelungen erklären muß: oder wann sonst gab es in einem Jahr sowas wie Short Cuts, Schindlers Liste, Lebewohl, meine Konkubine, Der Baum, der Bürgermeister und die Mediathek oder Serial Mom auf einen Schlag? Wahrscheinlich werden wir im nächsten Jahr böse für diese Opulenz bluten müssen, und es wird ein, zwei, viel zu viele tragische Unannehmlichkeiten geben. Das Buch enthält eine Menge nicht übler Fotos, folgt einem geheimen Anordnungsprinzip und betreibt natürlich eher eine fröhliche Wissenschaft. Aus den Interviews und Porträts sind „Die Leute des Jahres“ geworden, und weil der tip im Gegensatz zu gewissen anderen Pamphleten ein Geld hat, sind die big cheese durchaus dabei: Walter Matthau und Jack Lemmon, Tim Robbins, John Woo, Zhang Yimou, Arielle Dombasle. Die Themen des Jahres sind überraschenderweise flott hergezählt (Thema = Problem): Aids, Neonazis, „Posse“ (!), Filmland China und schließlich die deutsche Komödie. Es bietet außerdem jede Menge Sätze wie den folgenden, die man ausschneiden, aufkleben und Tante Lilli zur Konfirmation schenken sollte: „Der Film macht einerseits die Faszination nachvollziehbar, die das kriminelle Bandenmilieu und das schnelle Geld durch Drogenhandel auf junge Leute ausüben können, zeigt aber auch schonungslos die Kehrseite der Medaille: Schmerz und Zuchthaus und Tod und unsägliches Elend.“
Vorsicht Hölderlin: Im September 1806 ging der Dichter den Weg, der sich für einen Dichter seines Zuschnitts gehörte: Beamtenwillkür und Familienbande ließen ihn in einer Anstalt verschwinden. Wie um den Vesuv kreist Harald Bergmanns Hölderlin Comics um diesen Abtransport; allerdings nicht in anbiedernd-romantisierender, sondern in fast textexegetischer Absicht. Fragmente, die Hölderlin vorher und nachher schrieb, werden montiert gegen Kritik durch die sogenannten Zeitgenossen, welche aus Briefen extrapoliert ist. Mitwirkende übrigens Udo Samel, Walter Schmiedinger, Otto Sanders – und Musik von John Zorn und Naked City. Nach der Vorführung findet unweigerlich das „Scardanelli Projekt“ statt, ein Live-Konzert zu Videoprojektionen von den späten Jahreszeitgedichten, die Hölderlin im Turm schrieb. Es wird gesampelt und getrommelt; Techno-Elemente und afrikanische Trommeln addiert. Hölderlin: „Die Gedichte sind echt, die sind von mir, aber der Name ist gefälscht. Ich habe nie Hölderlin geheißen, sondern Scardanelli.“
Es gibt nicht viele Menschen, die ein Energetisches Institut besucht haben, aber Sergej Bodrow gehört dazu. Er ist zur Zeit Gast des DAAD und hat seinen Film SER/ Freiheit ist ein Paradies mitgebracht, der so ziemlich das Kargste und Halsabschnürendste ist, was ich vor dem Satanstango je gesehen habe. („Satanstango“ allerdings wird diesen Eckplatz wohl für immer besetzt halten.) Ein Junge, ein schwererziehbarer mit der milchigsten, ärmsten & geschrubbtesten Haut, die man sich vorstellen kann, reißt aus dem Heim aus, um seinen Vater zu suchen, den er in einem Gefängnis weiß der Teufel wo findet. Sie sehen dann zusammen fern, das heißt, selbst wenn man Vater freiließe, würde das Leben nicht besser. Die ganze Odyssee ertragen zu haben, um das zu erfahren – diesen Film muß man aushalten. Sergej Bodrow ist da. mn
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