Der Ersatzmann tritt an

Zedillo kommt, Salinas geht. Vom „Modernisierer Mexikos“ bleibt ein Scherbenhaufen.  ■ Aus Mexiko-Stadt Anne Huffschmid

Wenn Mexikos gewählter Präsident Ernesto Zedillo heute die Staffel von seinem Vorgänger Salinas für die nächsten sechs Jahre entgegennimmt, steht er vor einem Scherbenhaufen. Nicht nur der Mythos vom sozialen Frieden ist dahin, auch der Haussegen in der seit über sechs Jahrzehnten regierenden Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) hängt mehr als schief.

Es sind nicht mehr die Anfechtungen von außen – wie noch 1988, als die Menschen nach der Präsidentschaftswahl noch massenhaft gegen den Betrug auf die Straße gingen –, sondern vor allem interne Zersetzungsprozesse, die die PRI- Hegemonie gefährden: Korruptionsskandale, kriminelle Flirts mit der Drogenmafia und last, not least die erbitterten Strömungskämpfe zwischen Erneuerern, Dinosauriern und Technokraten, bis hin zum Verdacht gegen die Parteispitze, die Mörder des PRI-Generalsekretärs Francisco Ruiz Massieu zu decken.

War Salinas vor sechs Jahren vor allem mit dem Versprechen der Modernisierung angetreten, so hinterläßt er am Ende seiner Amtsperiode nicht nur eine zersplitterte Machtelite, sondern auch eine extrem polarisierte Gesellschaft. Der eingefrorene Chiapas- Krieg ist dafür nur ein Beispiel. Überall im Lande brodelt es: Berichte über bewaffnete Gruppen in anderen Bundesstaaten werden bislang von den Behörden hartnäckig dementiert – bis zum 31.Dezember vergangenen Jahres aber hatte man auch die Existenz einer Guerilla in Chiapas „kategorisch“ ausgeschlossen.

Widerlegt ist inzwischen sogar die Behauptung, im modernen Mexiko gebe es zwar möglicherweise Armut, aber wenigstens keinen Hunger. Erst vor wenigen Wochen versetzte die Nachricht von verhungerten Indianerkindern in den abgelegenen Tarahumara-Gemeinden, im Hochland von Chihuahua, die gesamte Nation in eine Art Schockzustand. Das hilflose Argument der Regierung, der Hungerskandal sei „nur“ die Folge einer natürlichen Dürre, kam dabei einem indirekten Eingeständnis afrikanischer Verhältnisse gleich: keine Ernte, keine Infrastruktur, kein Essen.

Dabei hatte man keinesfalls nach Afrika, sondern in die erste Welt aufbrechen wollen. Mit einer Mixtur aus neoliberalem Lehrbuch und dem Armutsbekämpfungsprogramm „Pronasol“ nahm Salinas vor sechs Jahren die wirtschaftliche Sanierung in Angriff. Auf den ersten Blick mit einigem Erfolg: Viele ehemalige Staatsbetriebe sind heute in privater Hand, das Haushaltsdefizit ist in einen Überschuß verwandelt und die Inflation von hundertachtzig auf sieben Prozent gedrosselt. Handelsschranken wurden beseitigt, der Schuldendienst bezahlbar gemacht – ohne allerdings den Schuldenberg abzubauen – und ausländische Investoren ins Land gelockt.

Die Kehrseite dieser mustergültigen Strukturanpassung: eine Einkommenskonzentration in bisher nie gesehenem Ausmaß – die 24 reichsten Männer des Landes besitzen gegenwärtig 14 Prozent des Bruttoinlandsprodukts –, eine horrende Unterbeschäftigung und drastisch sinkende Reallöhne. Selbst der regierungstreue Gewerkschaftsverband CTM klagt über einen Kaufkraftverlust von über 60 Prozent seit 1988. Und das „Pronasol“-Programm blieb ein politisch manipulierter Tropfen auf den heißen Stein.

Selbst das Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada (Nafta), dessen Ratifizierung im letzten Jahr als bahnbrechender Salinas-Erfolg gefeiert wurde, taucht heute nur noch ab und an auf den Wirtschaftsseiten auf – dort verdrängt die Sorge über das eklatante Handelsbilanzdefizit immer mehr die frühere Freihandelsbegeisterung.

Ob der unerfahrene Zedillo, der erst im April als Ersatzmann für den ermordeten Colosio auserkoren wurde, all diesen Herausforderungen gewachsen ist, wird nicht nur von seinen politischen Gegnern bezweifelt. Profilieren könnte sich der 43jährige Ökonom wohl nur noch als neuer Saubermann, der erst einmal reinen Tisch macht im faulenden Apparat: mit einer radikalen Parteireform, der Absage an den Präsidentialismus und dem Beginn eines realen Dialogs mit der Opposition. Das neue Staatsoberhaupt, so schreibt der Politologe Mauricio Merino, wäre dann „ein Erbe, der bereit ist, auf sein Erbe zu verzichten, um überhaupt regieren zu können“ – ein eher unwahrscheinliches Szenario.

Wie auch immer: Der Wunsch von Guerillasprecher „Marcos“, die Regierungspartei möge doch bitte schön Selbstmord begehen, könnte durchaus in Erfüllung gehen. Dann ginge Präsident Salinas doch noch als – allerdings unfreiwilliger – mexikanischer Gorbatschow in die Geschichte ein. Bleibt nur zu hoffen, daß der Übergang zur Demokratie in Mexiko ein wenig zivilisierter verläuft als in anderen Teilen der Welt.