Programm-Kunst am Rathausgiebel

■ Neue Gebrauchsanweisung zum Entschlüsseln des Bremer Rathauses

Daß ein für die Selbstdarstellung einer Stadt so wichtiges Bauwerk wie das Rathaus mehr sein könnte, eigentlich mehr sein müßte als ein bloßes Verwaltungsgebäude, darauf müßte man vielleicht selbst noch kommen. Ein zweiter Blick auf die Fassade des Bremer Rathauses zeigt, daß das Leben der Bürger gewissermaßen abgebildet wird - im Keller die Geselligkeit, in der Unteren Halle Arbeit, Handwerk, Geschäft, in der Oberen Politik und Rechtsprechung – nun ja. Aber daß es die Stadt Gottes symbolisieren soll, das Himmlische Jerusalem mit dem Thron Gottes als Krönung: das kommt einem von selber kaum in den Sinn.

Eben das behauptet jedoch Rolf Gramatzki in seinem Versuch, der Ikonologie des Rathauses auf die Spur zu kommen, das heißt in der Fülle von Ornamenten und Figuren nicht bloße Verzierungen zu sehen, sondern Plan, Absicht und Aussage. Sein großer kenntnisreicher Bildband ist jenseits aller kunsthistorischen Bedeutung eine Ge brauchsanweisung zum rechten Sehen, und das macht es auch für den Laien mehr als interessant.

Er wollte die verborgene Bedeutung aufschlüsseln und entdeckte dabei in den über 400 Figuren und Reliefs allein an der Fassade des Rathauses schon 25 Themenkreise - nicht Zufälligkeiten oder zusammenhanglose Darstellungen irgendwelcher Art, sondern ein ganzes Programm aus Glaubensgrundsätzen, Mythologie, alttestamentarischer Überlieferung, römischer und zeitgenössischer Geschichte: Programmkunst vom Feinsten sozusagen, wenn man denn das Programm zu lesen versteht. Die Früheren konnten es offenbar, waren mit der Sprache von Bildern vertrauter als wir heute, kannten vor allem ihre Bibel und die Bedeutung von Attributen und Zeichen.

So erkannten sie vermutlich ohne besondere Schwierigkeiten, daß im Mittelgiebel des Rathauses der Thron Gottes Gestalt angenommen hatte: von den schmalen, mit Weintrauben besetzten Reliefs in den Stürzen der oberen Fensterreihe, die das Volk Gottes und die Gemeinde Christi symbolisieren, bis zu dem ganz oben im Giebel deut lich zu erkennenden ovalen Stein, von dem im Johannes-Evangelium die Rede ist, und den zwei flankierenden Säulen, die als Stützen von Gottes Thron beschrieben werden. Dazwischen die in drei Reihen angeordneten Fenster als Hinweis auf die heilige Dreifaltigkeit.

Acht Seligpreisungen weisen dem Gläubigen den Weg vor Gottes Thron. Das Bremer Wappen mit dem Schlüssel direkt darunter signalisierte ihm nicht nur Ruhm und Macht der Stadt, sondern erinnerte ihn auch an den Schlüssel, den Christus der Weltenrichter in den Händen hält, um Hölle und Tod unschädlich zu machen.

Wer's gern etwas weltlicher hätte, der mag darüber nachdenken, warum das Rathaus steht, wo es steht. Hätte es nicht auch an einer der anderen Seiten des Marktes seinen Platz finden können? Nein, sagt Gramatzki. Schon der gotische Bau war zur Weser hin ausgerichtet, die vorgelagerten Arkaden symbolisierten den Fluß; die Renaissancefassade betonte diesen Aspekt noch stärker, wies auf die Staaten hin, denen sich Bremen politisch und in Glaubensfragen verbunden fühlte: den Niederlanden, dem elisabethanischen England, den reformierten Staaten in Deutschland.

Man kann derlei Aufschlüsselungen fast beliebig fortsetzen und wird immer Neues im scheinbar Bekannten entdecken. Darin liegt der Reiz der Lektüre von Cramatzkis vorzüglich illustriertem Buch, das eben druckfrisch in den Buchhandlungen ausliegt.

Otto Suhling

Rolf Gramatzki:

Das Rathaus in Bremen

Versuch zu seiner Ikonologie

Bremen (Hauschild) 1994

264 Seiten, DM 148,-