Der Großversuch zur Verfestigung des Flüssigen

■ Kurzer historischer Lehrgang zur Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa oder: vom Erfolg zum Scheitern – und wieder zum Erfolg?

Wie wechselt in der Politik der Aggregatzustand, wie können wir Flüssiges verfestigen, wie aus einem Prozeß eine Organisation destillieren? Die Antwort des politischen Alchimisten ist klar: durch Kristallisation. Also durch ein wohlgeordnetes System von Institutionen. Eben dieses Ziel wird mit dem Großversuch angepeilt, der seit 1990 an der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) läuft.

Die KSZE war usprünglich ein Projekt der sowjetischen Diplomatie, ersonnen, um den völkerrechtlichen wie politischen Status quo in Europa, Kurzname Jalta-System, zu festigen. Die andere Supermacht hatte dagegen im Prinzip nichts einzuwenden, bestand aber mit ihren Verbündeten darauf, daß der sicherheitspolitischen und ökonomischen „Dimension“ eine humanitäre hinzugefügt und das Ganze durch eine menschenrechtlich orientierte Prinzipienerklärung gekrönt würde. So geschah es – in Helsinki wurden 1975 drei Körbe und eine Charta verabschiedet. Die Konstruktion, eben der Helsinki-Prozeß, überstand die Zwischeneiszeit der späten siebziger und frühen achtziger Jahre, weil beide Bündnisse daran interessiert waren, die Sicherheitslage in Europa möglichst überschau- und berechenbar zu halten. Wo es schwierig wurde, zum Beispiel bei der Begrenzung der Nuklearpotentiale, hielten die Supermächte den Daumen drauf, aber die Konferenz machte sich erfolgreich an das mühsame Geschäft militärischer Vertrauensbildung. Ihre eigentliche Dynamik aber entsprang dem „humanitären“ Korb drei. Die Charta 77, Solidarność und alle nachfolgenden Bürgerbewegungen nahmen den Helsinki-Prozeß als Schutzschild, klagten bei ihren Machteliten die Einhaltung der menschenrechtlichen Verpflichtungen ein und hatten damit oftmals Erfolg. Die KSZE, als Stabilitätseinrichtung gedacht, verwandelte sich so zu einem der effektivsten Instrumente für die Vorbereitung demokratisch-revolutionären Wandels.

1990 war die „alte“ KSZE an ihrem Ende angelangt. Einen Augenblick lang sah es so aus, als könne auf dem Fundament einer neuen KSZE das „europäische Haus“ errichtet werden. Statt der Militärblöcke ein kollektives Sicherheitssystem. Aber die 1990 beschlossene „Charta von Paris“ schwelgte zwar in der Vorstellung eines geeinten, demokratisch verfaßten europäischen Raumes, blieb aber wortkarg hinsichtlich der Mittel, ihn zu verwirklichen. 1991, am Vorabend des jugoslawischen Eklats, schrillten keine Alarmglocken, waren keine Fact-finding-Missions unterwegs und keine Schlichter am Werk. Die Berliner KSZE-Konferenz vom Juni des Jahres wurde zu einem Monument selbstzufriedener Blindheit. Was sie zu sagen hatte, ermunterte die jugoslawische Bundesarmee zum Einmarsch in Slowenien. Damit nahm die Katastrophe ihren Lauf.

Ein Jahr später, 1992 in Helsinki, suchten die KSZE-Diplomaten die Scherben zusammen. Die KSZE war jetzt um die Nachfolgestaaten der Sowjetunion und Jugoslawiens erweitert, eine halbe UNO. Vom jugoslawischen Kriegsschauplatz hatte sie sich verabschiedet, dafür aber die Krisenregionen des Kaukasus und Zentralasiens eingehandelt. Kurzerhand deklarierte sich die Konferenz zur Regionalorganisation der UNO, allerdings ohne einen entsprechenden völkerrechtlichen Vertrag abzuschließen, mithin ohne Rechtsverbindlichkeit. Der Mittelmeerraum, für jede europäische Regionalorganisation neben der Ost-West-Achse der Schauplatz notwendiger Kooperation und Sicherheitspartnerschaft, wurde in der Schlußerklärung mit einigen nichtssagenden Paragraphen abgefertigt. Schon in Helsinki 1992 waren Verfestigung und Verstetigung die Zauberworte. Das Licht der Welt erblickten das Sicherheitsforum einschließlich des noch embryonalen Zentrums für Konfliktverhütung in Wien, das Ausschußbüro Hoher Beamter in Prag (später faktisch vom neugegründeten „Ständigen Ausschuß“ in Wien absorbiert), das Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte in Warschau und schließlich das Kommissariat für den Schutz der Minderheitenrechte mit Max van der Stoel an der Spitze. Zur ökonomischen Entwicklung Osteuropas konnte die KSZE trotz einer großdimensionierten Konferenz in Bonn institutionell nichts beitragen.

Hätte es die KSZE 1992 nicht schon gegeben, sie wäre damals, wie Hans Arnold treffend bemerkt, wohl kaum ein zweites Mal erfunden worden. Aber da sie nun mal „real existierte“, begann sie in den Lücken zu nisten, die UNO, Nato, Partnerschaft für den Frieden, EG/WEU, der Europarat samt Internationalem Gerichtshof und die Entwicklungsbanken ihr ließen. Für die weitere Ausarbeitung der Rüstungs- und Waffenkontrolle, für vertrauensbildende Maßnahmen im militärischen Bereich leistete sie seit 92 nützliche Arbeit. Sie entsandte eine Reihe von Missionen in Krisengebiete, deren wichtigste, in Nagorny Karabach, allerdings durch den fortdauernden Bürgerkrieg blockiert wurde. Das Warschauer Menschenrechts-Büro blieb in der Luft hängen und konnte nur wenig Hilfe für die Stärkung des Rechtssystems in den neuen Demokratien leisten. Der Minderheiten- Kommissar van der Stoel hingegen entfaltete in Zentralasien, im Baltikum und anderswo eine stille, ziemlich erfolgreiche Vermittlungsarbeit. Zusammengenommen: Von „Sicherheitsarchitektur“ konnte bis jetzt keine Rede sein. Aber für die sich abzeichnende Hauptaufgabe der KSZE, Rußland die Tür nach Europa offenzuhalten und nationale Konflikte auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion zu verhindern oder zu beenden, bietet die „Noch-Nicht-Organisation“ einen brauchbaren, ausbaufähigen Ansatz. Christian Semler