Chronik eines mißlungenen Besuches

Bevölkerung und Regierungsvertreter hatten für Butros Ghali in Sarajevo nur Hohn übrig / Serbenführer Karadžić verweigert das Gespräch mit dem UN-Chef gleich ganz  ■ Aus Split Erich Rathfelder

„Ghali ist Hitler!“ brüllte ein älterer Herr, als der UN-Generalsekretär am Mittwoch nachmittag nach rund zweistündigen Beratungen mit der bosnischen Regierung das Präsidentschaftsgebäude im Herzen Sarajevos verließ. Andere Demonstranten hielten Transparente hoch, auf denen die Vereinten Nationen der Parteinahme für die serbische Seite bezichtigt wurden: „Warum laßt ihr Bihać allein?“, „Bihać wird ausgeliefert“.

Schon im Sommer war die Stimmung der Bevölkerung der bosnischen Hauptstadt gegenüber der UNO umgeschlagen. Seit jedoch wieder Granaten auf die geschundene Stadt abgeschossen werden, ist sie aggressiv geworden. Im Oktober hatte ein Ladenbesitzer seine Meinung zur UN-Politik in folgendes Beispiel verpackt: „Auf einem Schulhof schlägt ein Schüler einen anderen. Ein Lehrer kommt hinzu und sagt, hört auf. Der erste Schüler schlägt erneut zu. Wie vorher sagt der Lehrer, hört beide doch endlich auf, droht beiden gleichermaßen Strafen an, beläßt es dann aber bei der Ermahnung.“ Die scheinbare „Überparteilichkeit“ sei eine „Parteinahme“, „und das wissen die Leute“, erklärt auch Mehmed Halilović, Chefredakteur der Tageszeitung Oslobodjenje.

Für einen schwedischen Mitarbeiter der UN-Schutztruppen, der ungenannt bleiben will, signalisierte das breite Lachen und die Selbstsicherheit, mit der Butros Butros Ghali bosnischen Boden betrat, noch etwas anderes. „In der UNO ist eine Bürokratie entstanden, die eine eigene Wirklichkeit schafft.“ So glaubten die UNO- Spitzen tatsächlich, sie führten eine „Friedensmission“ aus, sie glaubten an die Kraft ihres Mandates. „In Wirklichkeit jedoch verlängerten sie mit den ständigen Konzessionen an die angreifende, stärkste Kriegspartei bei den Verhandlungen nur den Krieg.“ Daß Serbenführer Radovan Karadžić den Generalsekretär sogar brüskieren kann, indem er sich weigert, zum Stelldichein auf dem Flughafen in Sarajevo zu erscheinen, sei da nur folgerichtig. „Er weiß, daß dies von den UN-Führungsspitzen als Zeichen der Stärke ausgelegt wird. Wäre Ghali jedoch nach Pale gegangen, hätte er die serbische Republik in Bosnien anerkannt. Immerhin dies hat er verweigert.“

Solange die UNO den Krieg als „Bürgerkrieg“ definiere und nicht als „Aufteilungskrieg mit dem Ziel der Annexion großer Gebiete“ durch die serbischen und letztlich auch kroatischen Nationalisten, solange also das Mandat der UNO auf falschen Prämissen beruhe, könnte die UNO auch nicht adäquat handeln, erklärt Zdravko Grebo, ein bekannter Sozialwissenschaftler und Vertreter der multikulturellen bosnischen Gesellschaft, schon vor Monaten in einem Gespräch mit unserer Zeitung. „Die Erfahrungen mit der Politik der Vereinten Nationen erscheinen den Menschen in Bihać, aber auch in Sarajevo, Tuzla oder Zenica als Verrat Europas vor dessen eigenen Werten – und als eine Verbeugung gegenüber der Barbarei“, fügt Halilović nun hinzu.

Die Reaktionen bosnischer Regierungsmitglieder wie des Premierministers Haris Silajdžić gegenüber dem Blauhelm-Oberkommandierenden Michael Rose und der frostige Empfang Ghalis durch den bosnischen Präsidenten Alija Izetbegović stimmen also mit den Emotionen der Bevölkerung überein. Um 16 Uhr, zwei Stunden früher als geplant, entschwand der weiße Düsenjet des Generalsekretärs dann in den wolkenverhangenen Winterhimmel Bosniens. So reiste der von beiden Seiten brüskierte UN-Chef unverrichteter Dinge und ohne konkretes Ergebnis wieder ab und drohte mit dem Abzug der Blauhelme aus Bosnien. Er erwähnte dabei jedoch nicht, daß bisher lediglich die britische, französische und polnische Regierung diesbezügliche Drohungen ausgesprochen hatten. Und auch nicht, daß andere Länder wie die Türkei und Pakistan sich bereit erklärt haben, ihre Kontingente bei einem etwaigen Abzug der genannten Länder zu erhöhen.

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