■ Mit Union Carbides Gift auf du und du: Der geheime Tod
Neu-Delhi (taz) – Der Chief Medical-Officer im Nehru-Hospital von Bhopal gibt zu, daß er nur Symptomtherapie betreiben kann. Denn er weiß nicht genau, welche Vergiftungen er kurieren soll. Der Mediziner verteidigt seine Rezepte für Pillen ohne Gewähr so: „Unsere Untersuchungen an 80.000 Opfern haben gezeigt, daß das Gift keine neue Krankheit geschaffen hat. Ich behandle keine Gas- Opfer, sondern Menschen, deren Immunsystem geschwächt wurde, und die deshalb anfälliger sind als Gesunde. Wir haben festgestellt, daß bestimmte Erkrankungen – Infektion der Atemwege, unregelmäßige Blutungen und Totgeburten, Lungenödeme, Entzündung der Bindehaut in den Augen, Tuberkulose – doppelt so oft vorkommen wie bei normalen Menschen.
Heeresh Chandra, früher Professor für Gerichtsmedizin, bezweifelt allerdings diese Diagnose: „Wir wissen viel zuwenig über die Langzeitwirkung der Vergiftung. Aber es gibt beängstigende Indizien, etwa die Tatsache, daß viele Patienten auf die Therapien nicht ansprechen, daß sich ihr Zustand vielmehr verschlimmert.“ Was also war in jener Nacht zum 3. Dezember tatsächlich geschehen, welches Gas entströmte der Union-Carbide-Anlage? So symbolträchtig der Name „Bhopal“ heute ist, so ungeklärt sind die Einzelheiten der Katastrophe.
Ein Kompromiß des amerikanischen Konzerns mit der indischen Regierung verhindert die Aufklärung. Über zwanzig Studien sind bis heute nicht veröffentlicht worden. Union Carbide hat ein paar Millionen Dollar an Entschädigung in Aussicht gestellt, die Regierung verzichtet dafür auf weitere Ermittlungen, die auch etliche Versäumnisse der Kontrollbehörden an den Tag gebracht hätten.
Ein „süßlicher Geruch“ lag in der Luft, sagen Überlebende. Pannen, Nachlässigkeiten und technische Mängel ließen aus relativ harmlosen Grundstoffen wahrscheinlich das Gemisch „Methylisocyanat“ entstehen. Dieser Stoff gehört in die Oberklasse aus dem Gruselkabinett der modernen Chemie. Wieviel davon ausgeströmt ist und ob nicht weitere, bis heute geheimgehaltene, Verbindungen dabeiwaren, ist unbekannt. Hinweise auf den noch aggressiveren Stoff Diphosgen liegen vor, nachprüfbar sind auch sie kaum noch. Bernard Imhasly/nh
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen