Das Gift wirkt bis heute nach

In Bhopal warten die Überlebenden der Katastrophe in der Fabrik des Union- Carbide-Konzerns immer noch auf Entschädigung  ■ Aus Neu-Delhi Bernard Imhasly

Wenn eine Stadt ein Image-Lifting braucht, dann diese. Der Satz: „Kein zweites Bhopal!“ ist in aller Welt verständlich, wenn gegen Industrieprojekte protestiert wird. Umweltschützer denken an Schreckensgemälde von Goya. Aber der Blick am Abend von den Hügeln, in welche die Stadt und der Upper Lake eingebettet sind, erinnert an impressionistische Malerei. Hinter dem See ragen die Minarette der beiden Moscheen aus den Bazars, dann geht der Blick auf die anderen sieben Hügel mit den modernen Wohnquartieren. Im Westen verläuft der See in einem Schutzwald. Dort, preist die Tourismusbroschüre, leben Tiger und Bären in freier Wildbahn.

Umweltschützer warnten vergeblich vor der Gefahr

1,4 Millionen Menschen wohnen in Bhopal. Die schönste Rundsicht hat man vom Shyamala-Hügel aus, wo die Residenz des Regierungschefs des indischen Teilstaates Madhya Pradesh und das ehemalige Gästehaus der Chemiefirma Union Carbide liegt. Der Blick in die Unterstadt blieb den Gästen erspart: verstopfte Gassen, Lärm, Gestank, ein Gewirr von losen Telefondrähten über dem Kopf. Dort stehen die Fabriken. Die günstige Verkehrslage im zentralindischen Schnittpunkt hatte die US-Firma Union Carbide bewogen, hierher zu ziehen. Deshalb verspürte sie keine Lust zum Umzug, als Umweltschützer 1982 empfahlen, die Fabrik in eine abgelegene Region auszulagern. Union Carbide fand Gehör beim damaligen Chef des Gliedstaates, Arjun Singh. Denn zwischen Bahnhof und der heutigen Industrieruine liegt JP Nagar, die – illegale – Arbeiterkolonie. 60.000 Menschen hausten hier: Stimmenmaterial für den Politiker. Singh legalisierte den Slum, Union Carbide blieb.

Zwei Jahre später kam die Giftwolke über die Hütten. Seither hat der Regierungschef auf dem Shyamala-Hügel ein Image-Problem. Und vor dem Gästehaus ist eine Wache aufgezogen. Dafür interessiert sich Thakoor Ramsingh jedoch nicht. Wenn er noch laufen könnte, würde er gern selber vor seine Tür treten. Dort könnte er seine Forderung nach Schadenersatz leicht plausibel machen: Hausnummer 214 JP Nagar liegt 200 Meter vom Turm entfernt, der die Methyl-Isocyanat-Anlage krönt. In jener Nacht vom 2. auf den 3. Dezember 1984 schreckte ihn Lärm und Atemnot aus dem Schlaf. Auch Thakoor Ramsingh floh in Richtung Stadt. Seine Habseligkeiten ließ er liegen. Das hat ihm vielleicht das Leben gerettet. Andere, die unter der Last ihres Hausrats keuchten, atmeten das Gas noch tiefer ein und waren Stunden später tot. Doch die Atemnot ist auch Ramsingh geblieben, und seine Gliedmaßen sind steif geworden. „Aber das Schlimmste ist“, sagt sein Frau Sheila Devi, „daß er immer Angst hat – er braucht nur ein Insekt an der Wand zu sehen, und er beginnt zu zittern.“

Was sagen die Arzte? Sheila Devi wehrt resigniert ab. Sie erzählt, wie mühsam es ist, ihren Mann durch einen Verwandten auf dem Rücken zum Nehru-Spital tragen zu lassen. „Dort warten wir dann einen halben Tag, bis wir vor dem Arzt stehen, und der verschreibt einfach ein paar Pillen.“ Wer im Nehru-Spital zu einem der Ärzte vordringen will, muß sich durch die Wartenden kämpfen. Dr. Agarwal bestreitet den Vorwurf nicht, ein Pillenverschreiber zu sein. „Ich muß täglich 150 Patienten abfertigen. Was kann ich anderes tun?“ fragt er, schreibt ein Rezept, hört den Klagen des nächsten in der Schlange zu.

Auch Sunil Rajput hat jene Nacht überlebt. Er war damals elf Jahre alt. Sieben Familienmitglieder, darunter seine Eltern starben. Er selber schien vom Gift kaum betroffen, entwickelte vielmehr bemerkenswerte Führungsqualitäten und gründete eine Organisation „Children against Carbide“; er organisierte Protestaktionen und wurde zweimal ins Ausland eingeladen. Heute sitzt er lethargisch in seiner kleinen Unterkunft in der „Widows Colony“, die Beine angezogen, das Gesicht in den Armen vergraben. „Ich kann nicht schlafen, bin immer müde.“ Er verbringe ganze Tage in diesem Dämmerzustand, sagt ein ehemaliger Mitstreiter, „und das Schlimmste ist, daß er nicht mehr weiß, was gut und was schlecht ist.“

Die Behörden verlangen Beweise von den Opfern

Als Schadenersatz erhielt Rajput 700.000 Rupien, von den Zinsen kann er leben. Thakoor Ramsingh dagegen muß für jeden Hausbesuch des Privatarztes die Hälfte seiner monatlichen Rente ausgeben. Von den neun Mitgliedern seiner Familie hat nur eines der Mädchen, das beinahe erblindet war, eine endgültige Schadenersatzzahlung von netto 15.000 Rupien (500 Dollar) erhalten. 1989 versprach Union Carbide „aus humanitären Gründen“ 470 Millionen Dollar Hilfe. Davon sind bis heute etwa zehn Prozent ausbezahlt worden.

Um unberechtigte Forderungen von Zuwanderern auszuschließen, hat die Regierung ein langwieriges Beweisverfahren entwickelt. Solange es andauert, sollen Antragsteller 200 Rupien erhalten. „Aber“, sagt Sheila Devi, „jedesmal, wenn wir auf die Bank gehen, heißt es, es sei kein Geld vorhanden.“ Das Schiedsgericht verlangt weitere Nachweise. „Schauen Sie ihn an – braucht es da noch Beweise?“ Thakoor Ramsing kann nicht mehr sprechen. Die fünf Minuten Gespräch haben ihn erschöpft.