: Apfelbäume und Kompost-Klo
Träumen mit ökologischer Bodenhaftung / Bei Oranienburg entsteht ein Öko-Dorf / Verein Stattflucht bricht planvoll, nicht in Panik dorthin auf ■ Von Henrik Mortsiefer
Seit im Berliner Umland die einst feudalen und nun verfallenen Immobilien entdeckt und zu erschwinglichen Preisen angeboten werden, schießen bei manchem Städter die Phantasien ins Kraut. Leben auf dem Lande, endlich raus hier, raus aus dem Stadtmief. So riefen einige Berliner im September 1992 den Verein „Ökologische Siedlungsgemeinschaft Stattflucht“ ins Leben. Ihre Träumerei ist kein Luftschloß geblieben.
Hinter dem Wunsch, hinaus in die stadtnahe Provinz zu ziehen, stand mehr als nur ein naiver Fluchtgedanke. Der Name des Vereins, in dem sich Handwerker und Akademiker, Familien, Paare und Singles verschiedener Generationen versammelten, war und ist Programm. Statt blindlings der verschmutzten Anonymität der Großstadt zu entkommen, wollen die Vereinsmitglieder draußen vor den Toren Berlins überschaubare Lebensgemeinschaften ansiedeln, umweltverträgliche Bauweisen entwickeln und ein ökologisch verantwortliches und soziales Zusammenleben organisieren. Ziel des Projektes ist, die Gemeinschaftsidee dort in den Vordergrund zu stellen, wo sie gewünscht ist, ansonsten aber private Wohn- und Arbeitsbereiche zu sichern. Keine Renaissance von Love and Peace also, sondern der gewagte Mittelweg zwischen Reihenhaussiedlung und Landkommune.
Hundert Grundstücke rund um Berlin besichtigt
Ein schönes Vorhaben, das sich freilich in vielen Fällen als Illusion erwies, wenn es an die Arbeit ging. Doch die engagierten Stattflüchtlinge zeigten Durchhaltevermögen und handelten getreu ihrem Vereinsmotto „Es genügt nicht zu wollen, man muß es auch anwenden“. Hundert Grundstücke rund um Berlin wurden begutachtet, bis im Oktober 1992 die Wahl auf den „Moldenhauer Hof“ in Hohenbruch/Oranienburg fiel. 25 Kilometer von der nördlichen Stadtgrenze entfernt lag auf einem 57 Hektar großen Gelände der verfallene Bauernhof, idyllisch umgeben von Feuchtwiesen, Gräben, einem Teich, Äckern und Bäumen. Die Wasser- und Bodenanalysen erbrachten unbedenkliche Ergebnisse, 320 verschiedene Pflanzenarten zählten die Botaniker. Ein für das Projekt ideales Terrain.
Zwischen Entdeckung und Kauf des Grundstücks schob sich allerdings zunächst ein halbes Jahr bewegten Vereinslebens. Viele Gründungsmitglieder verließ der Wagemut, und die Gruppe reduzierte sich auf zwei Familien. Neue Siedler mußten angeworben werden. Schließlich gründeten vierzehn Hartnäckige die Gesellschaft „Ökologische Gemeinschaftssiedlung Moldenhauer Hof“, die das Gelände im Juni 1993 erwarb. Das Siedlungsprojekt nahm Konturen an, der Verein hatte seine erste Krise überstanden.
Nachdem die Pläne für die Öko- Siedlung auf verschlungene Antrags- und Genehmigungswege der zuständigen Behörden gebracht waren, setzten die neuen Eigentümer im Herbst 1993 erste hoffnungsvolle Zeichen auf dem Grundstück: Sie schlugen ein zweiwöchiges Zeltlager auf und pflanzten vier Apfelbäume und einen Walnußbaum. Irgendwann will sich die optimistische Hof-Gemeinschaft mit Ackerbau und Viehzucht, Gemüse- und Obstanbau selbst versorgen können. Bis dahin liegt noch viel Arbeit vor den zukünftigen Moldenhauern.
Die umliegende Natur zeigte sich während der ersten Aufräumarbeiten in einem weitaus besseren Zustand als das ehemalige Gehöft. Das aus dem 18. Jahrhundert stammende Wohnhaus und zwei Ställe waren nach jahrelangem Leerstand so heruntergekommen, daß eine Restaurierung unmöglich erschien. So entschied sich die Gruppe schweren Herzens für den 100.000 Mark teuren Abriß der Ruinen im Sommer dieses Jahres. Übrig blieben ein Stall und verwertbare Baustoffe, die demnächst bei der Errichtung von Trockenmauern, Wegbegrenzungen und Ställen wiederverwendet werden.
Zwei Jahre nach Vereinsgründung geht das Projekt „Moldenhauer Hof“ nun endlich in die konkrete Planungsphase. Anfang November fand die Siedlergemeinschaft einen Architekten, der die Pläne für den ökologisch einwandfreien Wiederaufbau des Hofes liefert. In einem Jahr soll mit dem Bau begonnen werden. Das Erscheinungsbild der vierseitigen Hofstruktur soll – quasi als optische Täuschung – wiederhergestellt werden. Deshalb werden nur dort, wo sich einst Ställe befanden, insgesamt drei zweistöckige Wohnhäuser für je vier Eigentümer entstehen. Auf den Grundmauern des ehemaligen Wohnhauses wird das Gemeinschaftshaus errichtet. Angestrebt ist eine umweltverträgliche und energiesparende Mischbauweise aus Fachwerk, Stein und Lehm.
Puristen stehen den Technikfreaks gegenüber
Wie die sogenannten Niedrigenergiehäuser mit Strom und Wärme versorgt werden, ist derzeit noch offen. In der Diskussion, in der sich nach Auskunft der Hof-Gemeinschaft Puristen und Technikfreaks gegenüberstehen, sind Windräder, Sonnenkollektoren und ein Blockheizkraftwerk. Gänzlich autark wird die Energiegewinnung aber nicht sein können, da ein Anschlußzwang an die örtliche Strom- und Wasserversorgung besteht.
Gute Chancen hingegegen sehen die Siedler für den Aufbau der eigenen Abwasserentsorgung – zumal es auf dem Grundstück keine Kanalisation gibt. Das anfallende Schmutzwasser könnte in einer terrassenartig angelegten Pflanzenkläranlage gereinigt und der geplanten Gemeinschaftswaschküche zugeführt werden. Kompostiertoiletten werden zudem die ökologisch verträgliche Entsorgung der Fäkalien garantieren.
Bis sich jedoch das Karree des Hofes zum „Dorfplatz“ der Moldenhauer Siedlung schließt, im Gemeinschaftsgarten Gemüse gedeiht und sich die Privatgärten („keine Vorgärten mit Jägerzaun“) bevölkern, muß an freien Wochenenden und im Jahresurlaub der Bau des ersten Wohnhauses in Angriff genommen werden. In einer zweiten Bauphase sollen weitere Hofteile hinzukommen. Da alle Hofbewohner auf absehbare Zeit noch in Berlin arbeiten und die S-Bahn-Verbindung in die Stadt zu wünschen übrigläßt, muß zukünftig per Auto gependelt werden. Ein unvermeidlicher Widerspruch im Öko-Konzept, so die Siedler, der mit Fahrgemeinschaften und Fahrrad-Enthusiasmus entkräftet werden soll.
Daß die Gründung der ökologischen Gemeinschaftssiedlung nicht allein mit Idealismus zu bewerkstelligen ist, sondern auch finanzkräftige Mitwirkende braucht, betonen die Moldenhauer Siedler regelmäßig bei öffentlichen Informations- und Werbeveranstaltungen. Derzeit beteiligen sich 7 Parteien mit je 100.000 Mark Startkapital am Hof-Projekt. Man hofft, daß sich in Zukunft 10 bis 14 Parteien finden und die Einstiegssumme deutlich reduziert werden kann. Setzt sich die Idee dieser ökologisch inspirierten Stattflucht durch, würden sich auch die Chancen für die Anerkennung der Gemeinnützigkeit für Gemeinschafts- und Naturschutzaufgaben verbessern. Nicht zuletzt könnte das Projekt dann auf staatliche Förderung, Stiftungsgelder oder EU-Mittel hoffen.
Ungeachtet dieser fernen Finanzspritzen wollen es die jetzigen Stattflüchtlinge aus eigener Kraft versuchen und im Sommer 1996 die ersten Bewohner des „Moldenhauer Hofes“ sein.
Info: „Stattflucht e.V.“ c/o Dagmar Kramer, Krumme Straße 61, 10627 Berlin, Telefon: 312 68 69
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen