Realismus wird Strategie

Kunstgeschichte stückchenweise zersplittert: „Der Riss im Raum“ im Martin-Gropius-Bau, Berlin  ■ Von Katrin Bettina Müller

Als Vaclav Havel 1991 die Burg von Bratislava betrat, lag Geschichte vor ihm als Teppich auf dem Boden ausgebreitet. Er lief über internationale Schlagzeilen aus dem Jahr 1968, über den Pariser Mai und den Prager Frühling, über Freizeitparks und Konjunktur, über den KGB und Fidel Castro. Gesammelt hatte das Textgewirr aus Alltag und Politik der slowakische Künstler Alex Mlynrcik Ende der sechziger Jahre; doch realisieren konnte er seinen „Tapis d'honneur“ erst 1991. Jetzt bildet diese gigantische Fahne einer zerschlagenen Hoffnung den Ausstellungshimmel über künstlerischen Aufbrüchen der sechziger Jahre von Penck, Gerhard Richter, Edward Dwurnik und Magdalena Abakanowicz in der Ausstellung „Der Riss im Raum“.

Da schlägt der Realismus der Darstellung des Wirklichen, der in der Tschechoslowakei und in Ostdeutschland zur Verpflichtung der Künstler in den fünfziger Jahren erklärt worden war, um in eine Strategie: Die Künstler begannen nach den Bedingungen zu fragen, die das Bild der Wirklichkeit konstituierten. Mit Richters abgemalten Zeitungsfotos verbindet Mlynrcik der Bezug auf das Massenmedium. Aus grobvernähten Schlitzen quillt rote Farbe über die stereotyp lächelnde Wirtschaftswundergesellschaft der „Party“, die Richter 1962, kurz nach seinem Wechsel von Dresden nach West- Berlin malte. Daneben hängen a.r. Pencks Ornamente aus ideologischen Emblemen und privaten Chiffren, mit denen er den Prozeß der politischen Zeichenbesetzung umzukehren versuchte. Erst der Rückblick ermöglicht, dieses schlüssige Spannungsfeld der Arbeit an der Geschichte zu rekonstruieren, in dem Richters „Bomber“ ebenso ihren Ort haben wie der Rückzug der polnischen Künstlerin Magdalena Abakanowicz in den Schutzraum der Archaik. Gewebt und geflochten baumelt ihre Skulptur „Abakan“ (1968) wie die zu groß gewordene und verlassene Haut eines urzeitlichen Monstrums von der Decke.

Ein neuer Kontext entfaltet seine Kraft. „Der Riss im Raum“ setzt Kunst aus Polen, der Slowakei, Tschechien und dem bis vor kurzem geteilten Deutschland in eine Beziehung, die erst jetzt sichtbar werden kann. Denn von 1945 bis heute erzeugten die unterschiedlichen Perioden der ideologischen Kontrolle und intellektueller Liberalisierung in Polen, der DDR und der Tschechoslowakei zeitungleiche Strecken, in denen die Kunst abtauchte, bis sie – an anderen Orten, zu anderen Zeiten – öffentlich werden konnte. Im Westen dagegen engte sich der Blick nach Osten nicht selten auf die Zeit vor 1945 ein, zum Beispiel auf die klassische Avantgarde des Konstruktivismus. Die zeitgenössische Kunst aus Polen, der DDR und der Tschechoslowakei nahm man hier erst wieder durch das selektive Prisma der staatlichen Kunsthandelsorganisationen wahr, die sich in den siebziger Jahren etablierten.

Es ist nicht nur das Erbe des Konstruktivismus, das eine Annäherung zwischen den scheinbar weit auseinanderliegenden Positionen von Ernst Wilhelm Nay und Tadeusz Kantor ermöglicht. Vier Jahrzehnte trennen die in abstrakte Rhythmen zersplitternde Mythologien Nays aus der Nachkriegszeit und Kantors Skulpturen-Bühne „La macchina dell'amore e della morte“ (1987), die sich am Anfang des Ausstellungsrundgangs gegenüberstehen. Nahe kommen sich der Maler und der Meister des Grotesken im Versuch der Überwindung eines großen Schreckens. Beider Fluchtpunkt ist das Grauen vor der Perfektion der vom Menschen erfundenen Todesmaschinen, erfahren im 2.Weltkrieg. Was Kantor in der mechanischen Wiederholung bannen will, ließ Nay nach einem Terrain jenseits von aufgebrauchten Symbolen suchen. In der Entdeckung dieser vergleichbaren Notwendigkeiten, mit der Kunst zu reagieren, liegt die Leistung der Ausstellung.

Durch diese produktive Gegenüberstellung erübrigen sich Debatten über Staatskunst versus Authentizität und östliche Mythen versus westlichen Betrieb, wie sie dieses Jahr die Neue Nationalgalerie Berlin durch die Übernahme der Bestände der Nationalgalerie der DDR ausgelöst hatte. Dort schien sich jenes Klischee von heroisch aufgeladener Gegenständlichkeit aus dem Osten gegen die Freiheit der Abstraktion aus dem Westen zu wiederholen, das jahrzehntelang Ergebnis der staatlichen Kulturpolitik der Ostblockländer gewesen war. Diese einseitige Polarisierung zu überwinden war das Ziel der vier Kunsthistoriker, die den „Riss“ im Kulturraum überbrücken wollen: Jiri Svestka (Düsseldorf/Prag), Anda Rottenberg (Kunsthalle Warschau), Ada Krnacova-Gutleber (Bratislava) und Matthias Flügge (Berlin). Für Flügge, der sich schon als Chefredakteur der Neuen bildenden Kunst gegen die Ideologisierung des Streits zwischen Ost- und Westkunst wandte, ist dies eine Verlängerung seiner publizistischen Arbeit, die in der DDR dem Spektrum der Künstler jenseits der offiziellen Repräsentanten galt. Die bekannten Heroen der DDR- Malerei etwa, die in Deutschland bisher die Debatte beherrschten, sind hier deshalb ausgeklammert. Statt dessen belegen die beiden polnischen Maler Andrzej Wrblewski und Edward Dwurnik das Bemühen um eine einfach zu lesende Bildsprache in figürlichen Historienbilder.

Das Quartett vertraut den Kommunikationsformen der Kunst – vielleicht eine anachronistische Tugend gegenüber den Forderungen nach Ausstellungsvermarktung. „Der Riss im Raum“ verzichtet auf Didaktik. Man wolle keine „nationalen Sonderwege“ konstruieren, noch „bisher vernachlässigte Entwicklungen“ rehabilitieren, betont Flügge. Deshalb sind die Geschichten der hier teils unbekannten Künstler allein im Katalog nachzulesen.

Ungewohnt ist die Verflechtung der Kunst der vier Länder nicht allein, weil nur wenige Künstler die Grenzen der politisch geteilten Blöcke zu überwinden suchten; zu den rühmlichen Ausnahmen gehört Joseph Beuys. Ungewohnt ist die Begegnung auch, weil zwischen den Künstlern der „Bruderländer“ des Sozialismus eine eigenartige Distanz bestand. Sie war zum

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einen Ergebnis des Mißtrauens gegenüber den offiziell verordneten Repräsentanten, denen die unter staatlichen Reglementierungen leidenden Künstler im Nachbarland genauso wenig zutrauten wie im eigenen. Zum anderen bedingte die Beschränkung auf teils private Ausstellungsorte am Rande des Beobachtungsfeldes den mangelnden Informationsaustausch. Innovative Impulse erwartete man eher aus Paris denn aus Prag oder Berlin. „Der Riß im Raum“, getragen von der Guardini-Stiftung, wird deshalb auch in Warschau und Prag zu sehen sein. Anda Rottenberg erzählt, daß es in Polen allein dem Museum Sztuki in Lodz gelungen sei, sich über lange Jahre der zeitgenössischen Kunst in internationaler Weite zu widmen. Dorthin brachte Joseph Beuys 1981 seinen „Polentransport“, auch in Anerkennung der Tradition, dem Künstler dort selbst die museale Inszenierung anzuvertrauen.

Vor allem trotzt die Ausstellung der hartnäckigen Vorstellung, daß die Kunst Osteuropas im konventionellen Gattungsgefüge gefangen sei. Magdalena Jetlova läßt die klassizistischen Skulpturen der Gründerzeit-Architektur des Museums wie Fossilien aus einem Berg roter Lava ragen. Der polnische Maler Edward Krasinski verbindet Räume und Zeiten mit einer blauer Linie, die quer über Ausstellungswände, Bilder und Fotografien früherer Ausstellungen und privater Räume läuft. Leon Tarasewizc hat eine Museumswand selbst zum Träger einer leuchtenden blaugelben Malerei genommen. Ivan Kafka versperrt einen Raum mit transparenten Vorhängen aus Pfeilen, deren Spitzen gegeneinander gerichtet sind. Die visuelle und metaphorische Kraft der Installationen bezeugt, daß die Eroberung von Räumen in den Randzonen der kontrollierten Kunst eine Geste der ästhetischen und zugleich politischen Befreiung war. Sie konnten sich mit einer neuen Materialsprache und der Sensibilisierung für die historischen Verflechtungen des Ortes einer ideologischen Vereinnahmung entziehen. Der Ausstellung verleihen diese Arbeiten eine Leichtigkeit und Großzügigkeit, die nichts mehr mit der moralischen Schwerfälligkeit einer Nachhilfestunde in Sachen Ostkunst gemein hat.

„Der Riss im Raum“, bis 5. Februar, Martin-Gropius-Bau, Stresemannstr. 110, Berlin