„Der Haß sitzt tief“

Tödliche Schlägereien vergraulen die Zuschauer aus den brasilianischen Fußballstadien / Vereine und Verband hilflos  ■ Aus Rio de Janeiro Astrid Prange

„Hart durchgreifen!“ Dies ist nach Ansicht von Oldemario Touginho die einzig verläßliche Methode, um den Gewaltausbrüchen in Brasiliens Fußballstadien ein Ende zu machen. „Die neue Jugend ist verkommen, und zwar weltweit“, jammert der Fußballkommentator der brasilianischen Zeitung Jornal do Brasil. Die Kinder der Armen würden sich nachts mit den Nutten den Bürgersteig teilen, während die Sprößlinge aus reichen Familien heimlich Marihuana rauchen und Wände beschmieren. Vor Bestrafung bräuchte sich in Brasilien keiner zu fürchten.

Die Idylle rund ums Leder ist beim vierfachen Fußballweltmeister bedrohlich ins Wanken geraten. In den vergangenen drei Monaten starben in den Stadien zwischen Rio und São Paulo sechs Fußballfans. Zahlreiche Besucher entkamen der Randale zwischen Anhängern rivalisierender Fußballmannschaften nur schwerverletzt. Eine „falsche“ Kopfbedeckung im Umkreis des Stadions kann tödlich sein: So wurde dem 20jährigen Luciano Tavares, Anhänger des Klubs „Corinthians“ aus São Paulo, am 20. November die Mütze vom Kopf gerissen. Beim Versuch, die symbolträchtige Kappe zurückzuerobern, durchbohrten Messerstiche seine Niere.

„Die Wutausbrüche sind die Rache für die Toten vom letzten Wochenende“, weiß Fußballfan Rogerio Augusto, seit fünf Jahren einer von 18.000 organisierten Anhängern des Fußballvereins „Vasco da Gama“ aus Rio de Janeiro. Wenn es darum geht, einen toten „Kollegen“ zu rächen, verwandeln sich alle Gegenstände, die ihm in die Quere kommen, in gefährliche Waffen: Glasscherben, Flaschen, Holzstöcke und Steine. Angst vor einem Gefängnisaufenthalt hat der 19jährige nicht: „Der Adrenalinstoß ist mächtiger“, beschreibt der „Office-Boy“ sein Glück im Gewaltrausch. „Wenn die Sache gut eingefädelt ist, kann die Polizei nichts machen.“

Jack London, Sportsekretär des Bundesstaates Rio de Janeiro, stellt sich auf ein dauerhaftes Kesseltreiben auf den Rängen ein. „Das friedliche Zusammenleben zwischen Arm und Reich beim Fußball ist vorbei“, meint der Politiker. Für Mannschaften, die ihre Fans während des Spiels zur Gewalt animieren, ist das „Maracaná“, größte Fußballarena der Welt in Rio, nun einen Monat lang tabu. Die Räume der „Organisierten“ („Torcida organisada“) innerhalb des Stadions, wo nicht nur Trikots, sondern auch Waffen lagerten, sind bis auf weiteres geschlossen. Fußballfans müssen sich beim Zugang zu öffentlichen Stadien in Rio neuerdings Leibesvisitationen gefallen lassen.

Die Vorsichtsmaßnahmen können die Zerstörungswut der Organisierten nicht bremsen. „Das bringt alles überhaupt nichts. Weil sie uns die Räume weggenommen haben, schlagen wir jetzt alles kurz und klein“, beschreibt Rogerio Augusto die Stimmung unter den Fans. Die Revolver schmuggelten die Mädchen herein. Außerdem würde jeder Polizist für zehn Dollar auf die Hand beide Augen zudrücken. Der 19jährige Office-Boy gibt sich kategorisch: „Nur wenn die Organisierten nicht mehr umsonst ins Stadion kommen und die Polizei wirklich durchgreift, kehrt Ruhe ein.“

Die Schlägereien in und um die Stadien haben viele Brasilianer vergrault. Laut einer Umfrage der Zeitung Estado de São Paulo von der vergangenen Woche unter 209 Fußballfans ziehen es 91 Prozent der Befragten vor, sich die Partie im Fernsehen anzuschauen. Nur sieben Prozent der Fußballverehrer verfolgen das Spiel live im Stadion, zwei Prozent der Befragten hören sich die Übertragung im Radio an. Die überwältigende Mehrheit der Stadionbesucher ist zwischen 16 und 19 Jahren alt, die Zahl der Familienväter, die ihre Kinder sonntags mit zum Fußball nehmen, ist auf klägliche 2,6 Prozent zusammengeschmolzen.

Für viele Fußballklubs haben sich die Organisierten zu einem echten Wirtschaftsproblem ausgewachsen. Leere Fußballstadien und zunehmend teure Fußballprofis strapazieren die Vereinskassen. Beim FC São Paulo, dem Weltcupsieger des vergangenen Jahres, machen Eintrittsgelder 18 Prozent der Einnahmen aus, so der Kassenwart Marcio Aranha. „Die größte Quelle sind Sponsoren und Lizenzvergabe.“ Neuerdings wird das Budget des größten Klubs aus São Paulo auch durch Einnahmen aus dem Glücksspiel Bingo bereichert. Nicht bei allen Sportklubs sind die Einnahmen so unterschiedlich gestreut. „Der Massenklub Corinthians ist auf die Eintrittsgelder wesentlich mehr angewiesen“, weiß Aranha.

Wie Sportreporter Oldemario Touginho ist auch der Kassenwart Aranha der Ansicht, daß nur härtere Strafen fanatische Fans von den Schlägereien abhalten können. „Die Randale hat nichts mit der Größe des Geldbeutels zu tun, sondern ist auf den Verfall sozialer Normen zurückzuführen“, erklärt der Fußballfunktionär. Wenn ein Fußballfan einmal festgenommen würde, stamme er zumeist aus der Mittelschicht. „Arme können sich überhaupt nichts leisten, noch nicht einmal die verbilligten Eintrittskarten, die der Klub an die Organisierten verteilt“, erklärt er.

Nach den Ausschreitungen der vergangenen Wochen hat der FC São Paulo die privilegierte Behandlung der Organisierten gekürzt. Für Transportkosten, Fahnen und Eintrittskarten, die der Klub bezahlte, müssen die Fußballfans nun selber aufkommen. Der Verkauf von alkoholischen Getränken ist jedoch in den meisten Stadien weiterhin erlaubt. „In England ist das Trinken in den Stadien verboten. Hier lassen sich die Jungens vollaufen“, wettert Oldemario Touginho. Reiche und Angehörige der Mittelschicht benähmen sich geradezu kafkaesk: „Sie fahren mit importierten Neuwagen vor, und hinterher verstecken sie sich zum Studieren im Ausland!“

Selbstverständlich ist keiner der Beteiligten am brasilianischen Fußballbusineß für die tödlichen Gewaltausbrüche verantwortlich – außer der allseits kritisierten „verkommenen Jugend“. Die Fußballklubs schustern die Verantwortung der brasilianischen Fußballvereinigung (CBF) zu, die die jährliche Fußballmeisterschaft verwaltet. Die CBF habe zu viele Mannschaften zugelassen und durch die unzähligen, oft langweiligen Partien die Zuschauer vergrault. Die CBF beschuldigt wiederum die Fußballklubs, die Organisierten finanziell zu unterstützen und damit die Gewalt zu fördern. Die Organisierten rivalisierender Mannschaften pflegen ihre Feindschaft untereinander von Geburt an: „Der Haß sitzt tief“, beschreibt Rogerio Augusto den Teufelskreislauf der Gewalt. „Es ist einfach schon zuviel passiert.“