■ Nebensachen aus Budapest: Die Gipfelstadt wird „sichere KSZE-Zone“
Wegen des Ausnahmezustandes sagten Freunde aus der Provinz ihren heutigen Besuch in der Hauptstadt ab. Sie kämen ja wohl kaum durch, wegen der gesperrten Straßen. Die Behörden arbeiteten ja auch nicht, also könnten sie nichts erledigen, ganz zu schweigen von den Ausweiskontrollen, Durchsuchungen und so weiter. Da kämen sie doch lieber später. Tja, Budapest im Ausnahmezustand. Übrigens, warum es nicht positiv formulieren? Die Stadt ist eine, pardon, „sichere Zone“! Dreitausend Grünhelme, Hunderte von Leibwächtern, Scharfschützen, Zivilpolizisten, Sonder- und Einsatzkommandos sowie eine strenggeheime Anzahl strenggeheimer Vorkoster sichern das Leben von 52 very wichtigen Leuten — den Staats- und Ministerpräsidenten, welche zum Gipfeltreffen in der ungarischen Hauptstadt angereist sind. Zur „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“. Zwei Tage lang geht es um Sicherheit. Und dabei wird dann sicher auch eine andere „sichere Zone“ erwähnt werden. Bihač, die umkämpfte Region in Bosnien. Die einen heißen nur so, die anderen sind es. Presse, Funk und Fernsehen stimmten die Hauptstädter schon vor Wochen auf das Sicherheitsspektakel ein: „Kommt der Verkehr zum Erliegen?“ Kommissionen, Unterausschüsse und insgesamt 29 Organisationen arbeiteten den großen Sicherheitsplan für das größte Sicherheits- und Zusammenarbeitstreffen aller ungarischen Zeiten aus.
Halte- und Parkverbot auf zahlreichen Straßen und Plätzen gilt seit Tagen, Fahrverbot seit gestern. (Sichere Zonen!) Grenzkontrollen wurden seit Wochen verstärkt. Die Versorgung könnte stocken. Behörden riefen zum Horten von Lebensmitteln auf. Zwei Tage schul- und unifrei. Ein paar zehntausend Leute brauchen nicht zur Arbeit. Nikolaus kann seinen Ramschladen dichtmachen, Clinton bringt echt mehr.
Radiosender geben seit Tagen halbstündliche Sonderberichte zum drohenden Verkehrskollaps ab. Zeitungen berichten auf Doppelseiten. Buslinien fallen aus. Sonderzüge verkehren. Die Einheimischen können in den Untergrund gehen. Die Metro fährt im Minutentakt.
Oben rasen die wichtigen Leute zum Gipfel. Einer von zwei Flughäfen arbeitet nur noch für sie. Die Regierung mietete 200 Mercedesse aus Stuttgart, die via Donau verschifft wurden. Weitere 100 Mitsubishis werden extra importiert, zwei Tage lang von Staatshintern eingesessen und danach unter Berücksichtigung der Wertminderung an interessierte Bürger veräußert. Das Menü des heutigen Ehrenmittagessens ist streng geheim. Zu erfahren war nur: Die Gäste müssen Gang eins bis vier in 70 Minuten abwickeln.
Die Razzias begannen in der letzten Woche. Polizisten entfernten Bettler, Obdachlose und verdächtige Elemente aus der Innenstadt. Kanalisation sowie Straßenzüge, auf welchen die wichtigen Leute zum Gipfel rasen, wurden durchkämmt. Jeder Gulli, jede Wohnung. (Sichere Zonen!) Bewohner mußten sich ausweisen und jeglichen Besuch vorher anmelden. Es empfiehlt sich nicht, verdächtige Gegenstände ins Fenster zu stellen, die Hecken-, pardon, Scharfschützen auf den Dächern könnten sonst drauf schießen. In den Straßenzügen wohnende Ärzte haben sich bereit zu halten, wenn die wichtigen Leute vorbeirasen. Polizei konfiszierte Waffen in der ganzen Stadt. Feuerwerken ist während des Gipfels verboten. Wasser-, Gas-, und Elektrizitätswerke arbeiten nach Notstandsplänen. Nicht daß noch was explodiert oder in einer very wichtigen Steckdose der Saft für den Rasierapparat wegbleibt.
Sichere Zonen. Leben und sterben lassen. Dies ist bestimmt nicht der letzte Gipfel. Irgendwann haben wir eine sichere Welt. Leute, ihr hättet Euch in Bihač treffen sollen! Keno Verseck
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