■ Linkes Dilemma
: Konflikte ohne traditionelle Motive

Was wir derzeit allenthalben an Schlimmem erleben, ist sicher nicht schlimmer als zu früheren Zeiten, als der Henker frank und frei waltete und man aus rassischen, religiösen oder nationalen Gründen in die Gaskammer geschickt werden konnte. Dennoch gibt es eine schlimme Besonderheit in unseren Tagen: den absoluten Mangel an Einsatz, an echtem Verantwortungsgefühl, an konkreten Gegensätzen und großen Hoffnungen. Meist bleibt unverständlich, worüber sich Politiker oder gesellschaftliche Gruppen eigentlich streiten.

Die Rentenreform und die Sanierung der öffentlichen Dienstleistungen sind Beispiele für Gebiete, auf denen in allen Ländern heftige Fehden ausgefochten werden – obwohl doch alle, die Linken wie die Rechten, die Gewerkschaften wie die Arbeitgeber, die Notwendigkeit zum Sparen einsehen, weil das herkömmliche System schlichtweg auf den Bankrott zusteuert.

Die Oppositionen, und das sind derzeit nahezu überall die Linken, sagen nun: Man muß das Geld an anderer Stelle auftreiben – vor allem durch mehr Steuergerechtigkeit und durch effizienteres Aufspüren von Steuerfluchten. Doch sie wissen ganz genau, daß auch sie, sollten sie einmal an die Macht kommen, denselben Mechanismen unterliegen würden wie die derzeit Regierenden, weil nämlich höhere Steuern für die Besserverdienenden genau jene Flucht provozieren, die man zu bekämpfen sucht.

Warum also die harten Auseinandersetzungen, wenn letztendlich weder Lösungen noch religiöse, ideologische und nicht einmal administrative Dogmen zur Debatte stehen? Die einzig mögliche Antwort: Es geht um die Macht, und nur um diese. All die Streiks, all die Massendemonstrationen sind nicht, oder jedenfalls nicht vorwiegend, ein Kampf um die bessere, die richtige oder gar einzig richtige Lösung, sondern nur ein Kampf um die Macht.

Das Schlimme an unserer Zeit ist, daß wir eine konfliktträchtige Gesellschaft sind, ohne noch die herkömmlichen Motive für die Konflikte aufrechterhalten zu können. Unsere politischen Führer unterscheiden sich substantiell weder durch Religion noch durch Ideologie, sie wollen nicht einmal unterschiedliche Gesellschaftssysteme. Alle wollen Demoktraie, Europa, Liberalismus, Föderalismus. Alle wollen dies alles, aber alle nur mit dem Blick auf die Macht, die ihnen auf diese Weise in die Hände fallen soll. Die Linke macht hier keine Ausnahme. Und das ist ihr Dilemma. Giorgio Bocca

Der Autor ist Leitartikler von „la Repubblica“ und schreibt wöchentlich in „L'Espresso“ die Kolumne „L'Antitaliano“, für die dieser Kommentar auch entstand.