„Ein Sieg der Klassen und Ideen“

Eine bemüht geeinte sozialistische Partei präsentiert sich den FranzösInnen zum Wahlkampfauftakt: Ideenreichtum und Kampfbereitschaft werden krampfhaft hochgehalten  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

„Hmm, hmm, hmm ...“ Ganz leise summt der Mann mit den kurzgeschorenen Haaren im gefütterten Trenchcoat den Anfang der Internationale. Nach dem fünften Ton – er ist ganz unten angelangt – kommt er nicht weiter. Ein wenig verschämt blickt er um sich ins Gedränge. Die Mittvierziger lächeln aufmunternd, aber den richtigen Ton geben sie nicht an. Drei alte Frauen greifen die Staffel auf. Während sie die Melodie weitersummen, schellt es bei dem Kurzgeschorenen im Trenchcoat. Er dreht sich zur Seite, damit die Internationale sein Telefongespräch nicht stört.

Auf der großen Freitreppe vor dem Rathaus von Liévin stehen Hunderte von Menschen. Alte Bergarbeiter und ihre Frauen aus der Region, die ihr ganzes Leben nichts anderes als sozialistisch gewählt haben, in Tuchfühlung mit den elegant gewordenen Funktionären ihrer Partei, die zum Sonderparteitag in der nordfranzösischen Industrieregion angereist sind. Gemeinsam haben sie dem scheidenden Präsidenten François Mitterrand gelauscht, der vom Rathaus aus eine kämpferische Rede an sie gerichtet hat. „Der Sieg wird nicht eurer sein, sondern ein Sieg der Klassen und der Ideen“, hat er gesagt. Jetzt warten sie darauf, daß er aus dem Rathaus treten und die Treppe herab zu seinem Wagen schreiten wird. Kumpel im traditionellen Bergmannskostüm bahnen ihm schon eine Gasse.

Die Stimmung bei den französischen SozialistInnen ist an diesem kalten Novembertag so gefühlsbeladen wie lange nicht mehr. Endlich hat Mitterrand, der dreizehn Jahre lang all ihre Parteitage geschnitten hat, sie öffentlich unterstützt. Sechs Monate vor der Wahl seines Nachfolgers kam er zu ihnen zurück. Und endlich haben sie jetzt auch einen Kandidaten gefunden, den sie in das große Rennen schicken wollen. Daß Jacques Delors sich noch ein wenig ziert, die Kandidatur noch gar nicht angenommen hat, stört kaum einen von ihnen.

Der Parteitag von Liévin hat keine andere Funktion, als der Öffentlichkeit eine geeinte sozialistische Partei vorzuführen. Eine Partei, die ihren Vorsitzenden mit über achtzig Prozent der Stimmen im Amt bestätigt, die mit über neunzig Prozent ein – ausgesprochen linkes – Politikpapier absegnet und die jede namentliche Erwähnung des abwesenden Präsidentschaftskandidaten Delors ausgiebig beklatscht. Die Korruptionsaffären der achtziger Jahre, der Bluterskandal, bei dem zu sozialistischer Regierungszeit Hunderte von Menschen durch Blutprodukte mit dem HI-Virus infiziert wurden, und die Wahlniederlagen der letzten Monate, die die einstige Regierungspartei auf einen Tiefststand von vierzehn Prozent bei den Europawahlen im Juni brachten – das alles soll vergessen werden. Wie die SozialistInnen den Spagat zu ihrem sozialdemokratischen Kandidaten schaffen wollen, der viele Punkte ihres Parteiprogramms nicht unterzeichnen könnte – darüber reden sie nicht. So manche WählerInnen überlegen sich freilich, ob sie eigentlich „links“ wählen, wenn sie Delors im Mai ihre Stimme geben. Alternativen links der Mitte wird es – zumindest im ersten Wahlgang – viele geben. Die UmweltschützerInnen schicken wie üblich mehrere konkurrierende KandidatInnen ins Rennen. Die KommunistInnen treten mit ihrem neuen Chef, dem Lehrer Robert Hue, an. Die trotzkistische Sekte „Lutte Ouvrière“ läßt zum vierten Mal ihre Chefin Arlette Laguiller in den Wahlkampf ziehen. Die „Radikalen“ wollen auch jemanden aufstellen – am liebsten den einstigen Städtebauminister der SozialistInnen Bernard Tapie. Und zahlreiche linke Organisationen diskutieren noch über Namen und Zahl ihrer KandidatInnen.

Das Problem der meisten Linken – abgesehen von den KommunistInnen mit ihrer soliden Anhängerschaft – ist, daß sich ihre Diskussionen weit entfernt von der französischen Öffentlichkeit abspielen. Zwar verfügen sie über Zugang zu eigenen Radiosendern, zwar sind ein paar linke Wochenzeitungen geblieben, doch bei den aktuellen politischen Debatten über Arbeitslosigkeit, Europapolitik und die Korruption der politischen Elite Frankreichs spielen sie so gut wie keine Rolle. Auffallend ist die Zurückhaltung der KommunistInnen beim Thema Korruption. Möglicherweise bremsen eigene Parteifinanzierungen in den kommunistisch regierten Städten ihren Elan.

Eine trotzkistische Gruppe, die LCR, machte angesichts des Kopftuchstreits an französischen Schulen ein wenig von sich reden: Gemeinsam mit islamischen FundamentalistInnen verteidigte sie das Recht auf das religiöse Kleidungsstück an der laizistischen Schule. Wenige Monate zuvor war sie noch zur Verteidigung der staatlichen Schule, gegen konfessionell gebundene Privatschulen auf die Straße gegangen.

Aus der französischen ArbeiterInnenbewegung kommen schon lange keine neuen Signale mehr. Die Mitgliederzahlen der traditionellen Gewerkschaften stagnieren seit Jahren unter zehn Prozent. Wann immer – ob in kleinen Betrieben oder in großen Unternehmen wie Air France – Probleme auftauchen, sind schnell ad hoc gebildete „Komitees“ zur Stelle. An Stelle der „großen“ Gewerkschaften organisieren sie die Demonstrationen, Streiks und die Verhandlungen mit den Arbeitgebern.

Der „revolutionäre Esprit“ ist dennoch nicht ganz verschwunden. Nach monatelangem Glimmen flackerte er zuletzt bei den Protesten gegen den Mindestlohn für Jugendliche im Frühjahr diesen Jahres auf. Die Jugendbewegung, die Hunderttausende auf die Straße und zahlreiche neue Rednertalente an die Mikrophone brachte, entstand ebenso urplötzlich, wie sie – nach einem Sieg auf der ganzen Linie – wieder von der Bildfläche verschwand.

Die SozialistInnen, denen der Esprit über der allzulangen Regierungsverantwortung abhanden gekommen war, versuchen jetzt, ihn wiederzubeleben. Vielleicht steckt dahinter die Ahnung, daß in Frankreich gerade so etwas fehlt. In Liévin jedenfalls erheben sich die Delegierten am Ende des Parteitages von ihren Stühlen und singen gemeinsam die Internationale. Laut und selbstbewußt. Abends hört ein erstauntes Fernsehpublikum den selten gewordenen Klang.

„Ein Skandal“, sagen konservative und rechtspopulistische Politiker. Und ergänzen: „Die tun so, als hätte es den Kommunismus in Osteuropa nie gegeben.“