Und nebenan spielt eine Blaskapelle

Es gibt wieder mehr Tote im mexikanischen Chiapas / Und gewalttätig wird es wohl auch zugehen, wenn am 8. Dezember der neue Gouverneur Robledo sein Amt antritt  ■ Aus San Cristóbal Anne Huffschmid

Einen ganzen Tag hatten die drei Körper auf der Straße gelegen, bevor eine Ambulanz sie einsammelte und in das kleine weiße Haus in das Städtchen Venustiano Carranza brachte, 100 Kilometer südlich von San Cristóbal. „Nekrochirurgie“ steht in handgemalten Lettern über der Tür. Eine geschäftige Frau verscheucht die Fotografen: „Wir müssen hier arbeiten.“ Die Toten sollen „zurechtgemacht“ werden, bevor man sie zur Beerdigung in ihre Heimatdörfer transportiert. Keine leichte Arbeit: Die Schußwunden in ihren Körpern sind unübersehbar, dem jüngsten der drei Männer wurde glatt durchs Auge geschossen. Von überall her kommen die Menschen, warten schweigend in der brütenden Sonne, mit unbewegten Gesichtern. Schließlich fährt ein Lastwagen mit drei Metallsärgen vor. Die lokalen Behörden erklären sich auf Nachfrage für „nicht zuständig“. Und nebenan im Stadtpark spielt eine Blaskapelle fröhliche Sonntagsmusik, an den Marktständen werden Tacos und Süßigkeiten feilgeboten. Alltag in Chiapas.

Ein paar Straßen weiter, im Casa del Pueblo, dem Gemeindehaus der Bauernorganisation Emiliano Zapata (OCEZ): Die Kunde vom gewaltsamen Tod der compañeros hat sich herumgesprochen, der Gemeindesaal füllt sich mit Männern, Frauen und Kindern. In diesem Versammlungsraum hatte gestern noch die Vorbereitungskommission für die Demonstrationen gegen den für den 8. Dezember geplanten Amtsantritt des neuen Gouverneurs Robledo von der Regierungspartei PRI getagt. Eines ihrer Mitglieder war der Bauernführer Rafael Cruz, dessen Leiche heute – zusammen mit Mariano Cruz Alvarez und Manuel Gutiérrez – in eine der metallenen Kisten gehievt wird. Rafael habe „seit Jahren gewußt, daß er auf der Abschußliste stehe“, erinnert sich ein OCEZ-Sprecher in seiner Ansprache, jetzt sei er einem „feigen Hinterhalt“ zum Opfer gefallen. Es sind nicht die ersten Toten, die die Bewegung zu beklagen hat: Hinten im Saal hängt eine Reihe von gerahmten Fotos, alles Gesichter von Mitstreitern, die im Laufe der Jahre ermordet worden sind.

In einer improvisierten Pressekonferenz werden einer Handvoll angereister Journalisten die Einzelheiten des mörderischen Überfalls erläutert: Auf dem Rückweg von besagtem Vorbereitungstreffen seien die Aktivisten kurz vor dem Dorf Agua Clara aus einem vorbeifahrenden Fahrzeug angegriffen worden. Mindestens acht schwerbewaffnete Männer hatten auf offener Straße das Feuer eröffnet – darunter der ortsbekannte Kazike, der lokale Herrscher, Waldemar Garcia.

Der Anschlag „bezahlter Pistoleros“ ist nach Einschätzung von Angel Hidalgo Espinosa ein „Bestandteil eines großangelegten Planes, der von den lokalen Kaziken vorbereitet und von der Landesregierung unterstützt wird“. Gleich zwei Ziele, so der Tzotzil-Indianer, würden zur Zeit mit derartigen Aktionen verfolgt: Zum einen soll die Mobilisierung gegen den PRI- Gouverneur gebremst werden – für den 8. Dezember ist ein Sternmarsch auf die Landeshauptstadt vorgesehen –, und außerdem wolle man die Landbesetzerbewegung gezielt „zerstören und enthaupten“ und eine Welle der Gewalt provozieren.

Tatsächlich hat die Gewalt in der Region in den letzten Wochen und Tagen stetig zugenommen. Seit dem 20. November, dem Jahrestag der Revolution, nehmen die Schikanen und Einschüchterungen spürbar zu, berichten Bauern. Monatelang besetzte Kaffeeplantagen wie die finca mit dem klingenden Namen „Prusia“ (Preußen) – deren Besitzer Volker von Knoop wie so viele andere finca-Besitzer deutscher Abstammung ist – werden plötzlich gewaltsam geräumt, es gibt Tote, Verletzte und Verschwundene. Beobachter gehen davon aus, daß Kaffeebarone und Viehzüchter angesichts einer eher zurückhaltenden Staatsgewalt mittlerweile zur paramilitärischen Selbsthilfe greifen.

„Aber ihre Rechnung geht nicht auf“, meint Angel Hidalgo entschieden. „Trotz aller Toten, Kugeln und Gefängnisse, sie werden uns nicht aufhalten.“ Keine Einschüchterung? Na ja, „das von gestern“, räumt er ein, „könnte schon dazu führen, daß die Beteiligung an den Protestmärschen etwas zurückgeht“.

Der Countdown jedenfalls läuft. Am kommenden Donnerstag wollen sowohl der offizielle Wahlgewinner Eduardo Robledo wie auch sein – nach den offiziellen Auszählungen unterlegener – linker Herausforderer Amado Avendaño den Gouverneurspalast in Tuxtla Gutierrez beziehen. Um die absehbaren Zusammenstöße doch noch zu verhindern, hatte der neue Innenminister Avendaño am Wochenende zu einem „vertraulichen Gespräch“ nach Mexiko-Stadt eingeladen – bislang ohne jedes Ergebnis. Auch die Nationale Vermittlungskommission von Bischof Samuel Ruiz, die in den letzten Wochen fieberhaft alle am Konflikt beteiligten Akteure aufgesucht hatte, hält sich bedeckt.

Auf dem Weg nach Venustiano Carranza leuchten bunte Schilder am Straßenrand: Ein lächelnder Eduardo Robledo verspricht „Einen neuen Sozialpakt!“. Im Casa del Pueblo dagegen ist ein finster dreinblickender Zapata an die Wand gemalt und erhebt drohend das Gewehr. „Wir kämpfen um den Boden – und auch um die Macht.“ Ernst sehen die Männer aus, die darunter stehen, um ihrer erschossenen compañeros zu gedenken.