: Wunderwährung oder Illusion
Mit der neuen starken Währung boomt Brasiliens Wirtschaft / Der Kaufrausch ist für die Unterschicht allerdings schon vorbei ■ Aus Rio de Janeiro Astrid Prange
Ist es eine Seifenblase oder ein echtes Weihnachtsgeschenk? Brasiliens Bevölkerung klammert sich an ihre neue Währung, den Real. Der Traum der uneingeschränkten Einkaufslust scheint in greifbare Nähe gerückt. Das jedenfalls versichert die brasilianische Regierung, die im vergangenen Juli die neue angeblich inflationsfreie Landeswährung einführte. Der Real, so die offizielle Werbung, schütze die Kaufkraft von Löhnen und Gehältern, beflügele Investoren und kurbele die Wirtschaft an. Doch vier Monate nach dem Währungsschnitt machen sich bereits kleine Ungereimtheiten breit.
Zwar ist mit dem Real die brasilianische Währung erstmals mehr wert als ein US-Dollar – was die Bevölkerung mit ungeheurem Stolz erfüllt. Dennoch können sich viele Brasilianer auch mit einer starken Währung in der Hand nichts kaufen. Ein Korb mit Grundnahrungsmitteln kostet mittlerweile 88 Reais, über dreißig Prozent mehr als bei der Währungsumstellung. Dagegen wurde der brasilianische Mindestlohn gerade auf 70 Reais angehoben.
Dennoch weisen trotz des Anstiegs der Preise sämtliche Statistiken ein beträchtliches Wirtschaftswachstum auf. Nach Angaben der brasilianischen Vereinigung von Elektroproduzenten (Eletros) stieg der Umsatz von Kühlschränken, Waschmaschinen, Fernsehern und Videogeräten seit dem „Plano Real“ um 40 Prozent. Der Verkauf von Lebensmitteln nahm um 18 Prozent zu. Und Brasiliens Automobilindustrie verbucht einen Umsatzrekord nach dem anderen. Das Produktionsziel von zwei Millionen Fahrzeugen soll bereits 1997 überschritten werden, und nicht erst im Jahre 2000 wie ursprünglich anvisiert. Schon in den ersten neun Monaten dieses Jahres rollten in Brasilien insgesamt 1,55 Millionen Personenwagen vom Band.
Handelt es sich diesmal um einen echten Wirtschaftsboom? Oder ist der Plano Real ein weiteres Anti-Inflationsprogramm, das wie alle anderen sechs Wirtschaftspläne, die Brasiliens Bevölkerung seit 1986 über sich ergehen ließ, nach einem kurzen Boom im Nichts verpufft? Brasiliens Wirtschaftsminister Ciro Gomes beteuert, daß es für einen erneuten Anstieg der Inflation keine strukturellen Gründe gäbe, wohl aber „kulturelle Hindernisse“. Wie sonst solle man sich erklären, daß die Preiserhöhungen für Hühnerfleisch in der Metropole São Paulo die Busunternehmer im 3.000 Kilometer entfernten Bundesstaat Ceará dazu veranlaßten, die Fahrpreise anzuheben?
Aus Angst vor dem Konsumkollaps zog Brasiliens Regierung die Notbremse. Um den bedrohlichen Anstieg der Inflation, die allein im November 3,5 Prozent erreichte, abzuwenden, erhöhte die brasilianische Zentralbank im November die Zinsrate auf 5,95 Prozent – im Monat. Außerdem wurde die Finanzierung von Ratenkäufen von zwölf Monaten auf 30 Tage reduziert.
In der Praxis bedeutet dies, daß die meisten Brasilianer ihre Konsumwünsche wieder auf die lange Bank schieben müssen. Ciro Gomes befindet, daß dies dennoch gerechter sei, als wenn die Inflation das gewünschte Produkt verteuere. Das Ergebnis ist dasselbe: Der Kaufrausch ist für Brasiliens Unterschicht vorbei.
„Die Leute haben nicht mehr Geld“, lautet die Erfahrung José Gracianos, Filialleiter eines Elektrohandels in Rio de Janeiro. Doch die Stabilität der Preise ermutige sie zum Kauf auf Raten. Roberto Schneider von der brasilianischen Handelsvereinigung (CNC) hingegen hält das Anti-Inflationsprogramm für eine „monetarische Illusion“: „Die Kleinstverdiener sind auf den Schwindel hereingefallen, ihre Kaufkraft habe sich erhöht“, meint er. In Wirklichkeit sei die Zahlungsunfähigkeit der Raten-Käufer nach CNC-Ermittlungen seit der Einführung des Plano Real um 17 Prozent gestiegen.
War die Inflation also gar nicht so schlecht? Kindermädchen Rilda de Oliveira Figuereido jedenfalls sehnt sich nach der guten alten Zeit zurück, als die brasilianische Landeswährung noch Cruzeiro novo hieß und die Inflation im Monat 30 Prozent ausmachte. „Mit dem Cruzeiro konnte ich mir ab und zu ein Bier genehmigen, jetzt kann ich mir überhaupt nichts mehr kaufen“, jammert die 23jährige.
Reifenhändler Arthur Soares de Franca wittert in der Überbewertung des Real Unheil. „Brasiliens Währung kann einfach nicht mehr wert sein als der Dollar, wir verdanken den Amerikanern viel zuviel“, überlegt der Mini-Unternehmer. Obwohl sich der Autoboom positiv auf sein Geschäft ausgewirkt hat, traut er der Währungsreform nicht: „Die Inflation kommt wieder, so ist Brasilien nun mal.“
Zu Beginn der Währungsreform stand der Wechselkurs zum US-Dollar noch eins zu eins. Doch die restriktive Geldpolitik der brasilianischen Regierung, gepaart mit einer hohen Zinsrate, führte auf den Finanzmärkten Brasiliens zu einem Überangebot von Dollars und damit zu dessen Kursverfall gegenüber dem Real. „Statt mit dem Einsatz von Brasiliens stattlichen Auslandsreserven in Höhe von 42 Milliarden US-Dollar den Kurs aufrechtzuhalten, muß die Zentralbank nun Dollar vom Markt aufkaufen, damit der Kurs nicht noch tiefer in den Keller rutscht“, erklärt Brasiliens ehemaliger Zentralbankchef Paulo Ximenes.
Wirtschaftswissenschaftlerin Maria da Conceição Tavares sieht in der Überbewertung des Reals einen Angriff auf Brasiliens Industrie und Export. „Brasiliens Regierung will einen Importschock auslösen. Im Namen der Inflationsbekämpfung senkt sie willkürlich Importzölle und macht ehemals teure Produkte in Dollar für die Bevölkerung erschwinglich“, lautet die Analyse der 63jährigen Professorin.
Wirtschaftsminister Gomes räumt ein, daß die eigentliche Bewährungsprobe des Plano Real noch bevorsteht. „Wenn der Kongreß nicht bis Ende nächsten Jahres eine Steuerreform verabschiedet, den Finanzausgleich zwischen Bund, Ländern und Gemeinden regelt sowie die staatliche Renten- und Sozialversicherung umstrukturiert, wird der Plan nicht überleben“, warnt der Minister. Er selbst braucht die offizielle Real-Rhetorik nicht mehr lang zu verfechten: Vom 1. Januar 1995 an wird er sich einen einjährigen Aufenthalt an der amerikanischen Elite-Universität Harvard gönnen. Zur Zeit ist das Leben im vornehmen Cambridge billiger als am Zuckerhut.
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