Kunst rüttelt an Kunst

Eine kleine Tagungsmusik: „Philosophie und Film“ in Heisingen bei Essen  ■ Von Mariam Niroumand

Wie ein letzter Abschiedsgruß an den auktorialen Kinoerzähler wirkten die Helikopter, die zu Beginn von Robert Altmans „Short Cuts“ über den Himmel von Los Angeles zogen. Statt des privilegierten Zugangs zur Wahrheit brachten sie nichts als Insektizide; in ihrem Windschatten blieb ein heilloses Bündel monadischer Episoden, die sich höchstens noch in der Katastrophe berührten. Kein Wunder, daß nach Medienwissenschaftlern und Pädagogen nun auch Philosophen sich vorsichtig an das Kino heranrobben.

Die Tagung „Philosophie und Film“, veranstaltet von einer Gruppe Good Fellas des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen, hatte sich vorgenommen, Schnittmengen zwischen technischer Praxis, diskursivem Gebrauch und Ästhetik der fotografischen Medien auszumachen. Eingeladen war eine stattliche Liste der Vorstreiter dessen, was in den letzten Jahren so in der Filmtheorie en vogue war und nun ein wenig in der Sackgasse gelandet ist. Kaum zu glauben, daß man sich, nach den „Realisten“, den Sprachwissenschaftlern, Semiotikern und ihren Lacan-geschulten Feuerteufeln, den Feministen bis hin zu den „Simulationisten“, after all these years immer noch mit dem Problem herumzuschlagen hat, ob der Film nun wenigstens noch mit einem Spielbein in der Wirklichkeit hängt oder ob wirklich alles Verabredung, soziales Konstrukt, Sprachspiel ist. Wer letzterem anhängt, mag über den darin lauernden „Sturz des metaphysischen Weltbildes“ frohlocken: spätestens an der nächsten Straßenecke wird er von einem erbosten Passanten gestoppt, der das Kino für den ungebremsten Anstieg rechter Gewalt („Beruf Neonazi“), die ungehinderte Verbreitung ekliger Ursprungsmythen des weißen Mannes („The Flintstones“) oder verkleisternde Geschichtslektionen („Schindlers Liste“) verantwortlich machen will.

Um es gleich vorweg zu sagen: Der seit der „Erfindung“ des Kinos tosende Streit (eine Erbschaft der Konkurrenz zwischen Malerei und Fotografie) wurde zwar in Essen nicht gelöst (man wünschte ihm dazu auch einen pompöseren Ort). Aber er wurde um einige Sandsäckchen erleichtert: „Daß die metaphysisch begründeten Wahrheiten mit der Metaphysik zerfallen sind“, sagte die Veranstalterin Gertrud Koch, „zwingt uns nicht, das Kino entweder als ,pencil of nature‘ oder als ,playpen‘ zu betrachten, sondern vielleicht als Ergebnis des Bedürfnisses nach beidem ... In dieser Hinsicht wäre der Film zumindest auf der Höhe der Dilemmata der Philosophie.“

In der Tat hatte man oft den Eindruck, die blauen Flecke der Kinotheorie glichen denen der Subjektphilosophie aufs Haar: verfügt es über eine Essenz, ein Wesen, einen Anker im Ontologischen oder stellt es lediglich einen Notbehelf dar, einen Versuch, das Chaos mittels einer kohärenten Erzählung zu bändigen? Genau am Todestag von Guy Debord sprach Koch sich für die ästhetische Praxis des „Umwendens“ der Gegenstände, die surrealistische Technik der Transformation eines Dings aus seiner ihm lieb und gemütlich gewordenen Umgebung als genuin filmische Praxis aus. Das schöne Bein einer Frauenleiche in Buñuels „Das verbrecherische Leben des Archibaldo de la Cruz“ ist ganz von dieser, aber auch ganz von jener Welt, hier „rüttelt die Kunst an der Kunst“, wie Adorno über den Surrealismus schrieb. Fast bleibt dem Kino nichts anderes übrig als die „magische Praxis der Schaffung künstlicher Zusammenhänge“; immer fördert es optisch Unbewußtes zutage, immer liefert es Narration, Metonymie, ob es „will“ oder nicht. (Deshalb erübrigt sich bei der Montage von Ratten und dem Zug vertriebener Juden jeder Kommentar.)

Was die Filmtheorie nun tatsächlich von Henri Bergson (1859–1941) haben könnte – dem Philosophen, der die Philosophie der Bewegung anverwandeln wollte und den Gilles Deleuze erstmals in den Diskursring geworfen hatte –, blieb nach Heike Klippels klirrend gestrengem Vortrag durchaus vage. Klar wurde aber, daß bei der Beschäftigung mit Bergson etwas in bezug auf die Verräumlichung von Zeit im Film herauskommen könnte – ein Thema, das nicht zuletzt für alle Epigonen des strukturalistischen Films der Siebziger (Michael Snows „Wavelength“ zum Beispiel) relevant ist. Auffälligerweise war von dieser Art Film nie die Rede; der Pool an Referenzen begann beim frühesten Stummfilm und endete bei Robert Altman – es scheint, die Philosophie scheut ein ganz kleines bißchen den schieren Fluß der Bilder und klammert sich an das Kontextuelle.

Daß die klassische Psychoanalyse dem Kino dieser Tage nicht mehr allzuviel zu sagen hat, ahnt man schon von weitem; in Essen wurde ihr ein letzter Stoß versetzt. Richard Allen von der New York University buchstabierte an Traum, Fantasie und Fetisch durch, daß keines ihrer klassischen Konstrukte genug phänomenologische Ähnlichkeit mit dem Kino aufweist, als daß es sich weiter benutzen ließe. Seine Kollegin Joan Copjec hingegen kann zumindest mit Lacan weitermachen – wie er wohl überhaupt der feministischen Filmtheorie noch eine Weile erhalten bleiben wird. In einem Vortrag über das Melodrama mit dem aparten Titel „Melodrama and Magnitude – The Ethics of Absolute All“ beschrieb sie die Geburt der Detektivgeschichte aus der Kastrationsdrohung: Aus dem väterlichen Gesetz „Du kannst alles haben bis auf Mutter“ erwachse dem Mann die Vorstellung, daß der Welt immer etwas fehlt. Deshalb ist der Detektiv immer nach dem Ausgeschlossenen, dem Versteckten auf der Suche. Das Melodram hingegen sei die weibliche Antwort auf die Kastration, die stete Erfahrung des eigenen Ausgeschlossenseins.

Ach was! Er habe eine Liste dieser Feministinnen, die Lacan verfälschten, schrie der Slowene Slavoj Zizek, und stellte eben rasch gerade, was man jetzt mit Lacan machen könnte: Es sei nämlich die Stimme, nicht nur das Schreiben, die das Bedürfnis des Subjekts nach Selbstpräsenz penetrant störe. Nie sei sie ganz und gar Ausdruck des Selbst; nur in jubilanten Momenten der Selbstvergessenheit. In Chaplins „Der große Diktator“ ist Hitler ganz Stimme, auch wenn man ihn nicht versteht. Zizek: „Whatever Hitler meant, he really meant it.“ Im Gegenwartskino verdränge das Audio immer mehr das Visuelle. In Altmans „Short Cuts“ werden komplett disparate Episoden nur noch durch die Kommunikation miteinander verknüpft. In „Forrest Gump“ schließlich spreche sich einer im Südstaaten-Singsang ganz gelassen in den geschichtsfreien Raum.