Hungern auf offener Bühne

Stippvisite bei der hungernden PDS-Prominenz in der Berliner Volksbühne: Blutrote Rosen von der Sympathisantin, Pizzas von der Jungen Union und kurz vor dem Einschlafen noch eine Flasche Bier  ■ Aus Berlin Thorsten Schmitz

In den letzten drei Tagen hatte Beate Grafe* eine gewisse „Anspannung“ in sich verspürt. Als sie dann vorgestern abend auf dem Weg nach Hause an einem Blumenladen vorbeieilte, wußte sie intuitiv, wie sie sich Erleichterung verschaffen konnte.

Sie entschied sich für drei quittegelbe und drei blutrote Babyrosen, in Cellophan verpackt, und machte einen Abstecher zur Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Den Blumenstrauß in der linken, den Aktenkoffer aus schwarzem Krokoimitat in der rechten Hand, begab sie sich in den zweiten Stock der Theaterfabrik des Berufsrevolutionärs Frank Castorf – und mußte eine halbe Stunde Wartezeit in Kauf nehmen bis zur Audienz beim Rechtsanwalt und PDS-König Gregor Gysi. Der hatte sich, umständehalber, zum Nachmittagsnickerchen auf eine Campingpritsche zurückgezogen.

Während halb Deutschland den Speiseplan fürs Fest der Nächstenliebe erstellt, hat die Führungscrew der PDS die Nahrungsaufnahme auf unbestimmte Zeit eingestellt. Aus freien Stücken. Es paßt den Erben der SED nicht in den Kram, 67.400.142 Mark Steuern nachzuzahlen, die das Berliner Finanzamt am 4. November einforderte. 3,2 Millionen wurden bereits gepfändet. Bis die in die Parteikasse zurückgeflossen sind, wollen die Parteiführer hungern. Seit sechs Tagen inszenieren die PDS-Kempen ein öffentlich höchst wirksames Theaterstück, das physische und politische Appetitlosigkeit zum Inhalt hat. Ein Stück, das den Volksbühnen-Etat nicht belastet. Höchstens das Theaterfax, das vor lauter Solidaritätsbekundungen zeitweise lahmgelegt ist. Inzwischen haben sich, unter mehreren hundert anderen, Belgiens Kommunisten und ein Charlottenburger Partyservice ideell mit den Hungerkünstlern im Theater-Lazarett verbündet. Offenbar verschiebt sich außerdem bei manchen Berichterstattern angesichts der politischen Patienten der eigene Wirklichkeitshorizont. Ein Medizinredakteur des Spiegel erteilte den PDS- Aktivisten am Wochenende zwei Stunden lang Nachhilfeunterricht im Fach „Hungern“.

Das Fasten der demokratischen Sozialisten erzielt eine hohe Besucherquote. Deshalb kanalisieren eine Handvoll Junggenossen um die zwanzig Jahre den Zugang zur Bettstatt. Stippvisiteure mit Gemüsesäften und stillem Tafelwasser haben uneingeschränktes Recht zur Ablieferung flüssiger Nahrung und dürfen auch schon mal „Kopf hoch, Herr Gysi“ wünschen. Journalisten, Fotografen und Fernsehteams allerdings müssen draußen bleiben. Oder lange Wartezeiten in Kauf nehmen. „Wir wollen nicht zu einem Zoo verkommen“, sagt Hanno Harnisch, der mit 112 Kilo Lebendgewicht gewaltige Parteisprecher. Und deshalb ist er dagegen, so leid es ihm tut, daß das ARD-Fernsehteam filmt, wenn der Doktor den Blutdruck der Hungernden mißt.

Die zwei Funktelefone klingeln unentwegt; der Kontakt zur Medienwelt ist ihnen dann doch wichtig. Gregor Gysi brütet über irgendwelchen Akten; womöglich sinnt er über Formulierungen nach, mit denen man gegen die Steuernachzahlungsforderung Einspruch erheben kann. Der pausbäckige Sohn des PDS-Chefs Lothar Bisky filmt André Brie mit einem Camcorder, wie er auf dem Boden hockt und mit zwei Teenies in Palästinensertüchern plaudert. Und um die Nächte im Foyer zu versüßen, hat Hanno Harnisch, der vor einer Woche noch an ägyptischen Stränden Erholung tanken durfte und das „Du“ zur Lebensphilosophie erhoben hat, seine private Videosammlung mitgebracht. An diesem Dienstag abend wollen die sieben Männer sich von Woody Allen aufklären lassen: „Was Sie schon immer über Sex wissen wollten“ steht auf dem Spielplan.

Weil es keine allgemeingültigen UNO-Richtlinien für den perfekten Hungerstreik gibt, sagt Harnisch, erlauben sich die Männer, sozusagen als Betthupferl, regelmäßig eine Flasche Bier. Da sind „Aufbaustoffe“ drin, erklärt Angelika Marquardt, 23, vom Bundesvorstand, und sowieso schläft es sich damit besser ein.

Nicht zufällig hat die hungrige PDS-Prominenz Unterschlupf gefunden in der Volksbühne. Gysi kennt Castorf von früher noch. Und so bat er den Intendanten um Asyl, nachdem die Hungertruppe am Freitag unsanft aus dem Preußischen Landtag geschmissen wurde. Die sieben Männer hätten natürlich auch in ihrer Parteizentrale, wo sie Gemüsebrühe kochen lassen, das Lager aufschlagen können. Die liegt gerade mal einen Steinwurf von der Volksbühne entfernt. Aber dort hätten sie sich womöglich in die Bedeutungslosigkeit gehungert. „Das hätte doch niemanden interessiert“, räumt Harnisch ein. Und die neunmalklugen Witzbolde der Jungen Union hätten sich sicher auch nicht getraut, im Headquarter der SED-Erben mehrere Pizzas abzuliefern.

Die medienwirksame Mitleidskampagne beschert den SED- Nachfolgern nicht nur den ein oder anderen spontanen Parteieintritt, sie kitzelt auch ungeahnte intellektuelle Fähigkeiten hervor. „Ich mache das auch für mich selbst“, sagt Harnisch und meint den freiwilligen Verzicht auf Nahrungsmittelaufnahme. „Das schärft den Geist.“ Im Zuge der kammerspielhaften Entschlackungskur sprudelten Ideen aus ihm heraus, auf die er im allumfassend sättigenden Büroalltag oft nicht komme. Gerade jetzt, wo er doch permanent Protestpamphlete und Flugblätter unters Volk bringen muß, kommt ihm dieser Umstand sehr gelegen. So fiel ihm etwa ein, was haben wir gelacht, daß Berlins Finanzsenator Elmar Pieroth (CDU) „ja früher Weinpanscher war. Heute ist er ein Wahrheitspanscher.“

Und wenn das Finanzamt nicht einknickt, hat Deutschland zu Weihnachten „30 Hungernde auf dem Gabentisch der Republik“. Diese Formulierung hat Harnisch auch mit Loch im Magen kreiert.

*Name von der Red. geändert.