Effekt statt Metapher

■ Kampnagel: Babylon spielt „MARIEDL/Antiklima(x)“

Gleich am Anfang werden hinter der Bühne einige Schafe exekutiert, gleich am Ende die Mariedl-Familie von der Mariedl. Dazwischen wird 100 Minuten planmäßig, plakativ und pausenlos „die bürgerliche Moralvorstellung“ in ihr Gegenteil verkehrt. Mariedl (Miriam Fiordeponti) wird vom Vati (Herbert Sand) mit der Bohrmaschine gevögelt, Zwangsonanist „Bruder“ (Michael Schönborn) begießt sich den Pimmel mit heißem Wachs und läßt ihn sich von Mutti (Margot Gödrös) kneten, der Polizist (Günter Schaupp) fickt in Mariedls geschwürbewachsenes Arschloch und Blut, Kotze und Samen (Farbe, Erbsensuppe, Milch) ergießen sich über den Boden. Ab und zu öffnen sich ganz kurz einmal ein Löchlein im Krawall, um etwas Text zur Besinnung kommen zu lassen, der ansonsten auch nichts anderes ist, als permanentes Maschinengewehrgeknatter.

MARIEDL/Antiklima(x), Werner Schwabs letztes unvollendetes Theaterstück, fand in den Händen von Barbara Neureiter zu einer Uraufführung im Geiste des Reality-TVs: Die weidliche Ausinszenierung möglichen Grauens im starren Frame verlorenen Wirklichkeitsbezuges. Statt nach den Personen hinter den grotesken Überzeichnungen zu suchen und die gelegentliche Tiefe in Schwabs Texten zum Anlaß und nicht zum Beiwerk einer Inszenierung zu nehmen, sucht Neureiter gierig nach den Superlativen des Ekels. Die Verwechslung von Metapher und Effekthascherei ist hier perfekt gelungen.

Dabei hätten alle Rahmenbedingungen zu einer Inszenierung gereichen können, die im Schwab-Dauerbeschuß gegen deutliche Ermüdungserscheinungen hätte helfen können: Ausgewiesen großartige Schauspieler, als Bühne ein entzückender Weihnachtskalender aus Schränken vom Gelsenkirchner Barock bis zum Ikea-Lamellen-Mief, deren Türen eine Welt seligen katholischen Kitsches eröffneten (Bühne unter Mitwirkung der Babylon-Gründerin Barbara Bilabel), und ein Text, dessen Schmerz sich in der Beschreibung des kleinbürgerlichen Selbstzerstörungs-Krieges entfaltet und nicht in der farbigen Ausmalung des Gemetzels erschöpft. Doch Barabara Neureiter wollte es ekelhaft und dieser Ekel wirkt in seiner drögen Penetranz dann geradezu selbst wieder spießig.

Till Briegleb