■ Aus der Gelsenkirchener Tiefgarage steil zum Gipfel: Europalürik voll aufm Schlauch
Düsseldorf (taz) – Noch ist Ruh' über dem EU-Gipfel, weil er erst morgen in Essen beginnt, aber natürlich kennt die Vorfreude draußen im Lande keine Grenzen. So kommt es schon heute zu einer würdigen Ouvertüre, und zwar in der Nachbarstadt Gelsenkirchen. Die besitzen einen schönen Europaplatz, der erst kürzlich von 16 Agrarministern persönlich eingeweiht wurde, indem diese im Schweiße ihres Angesichts je ein Bäumchen pflanzten. Ein solider Maschenzaun, ein Schlagbaum, ein Pförtner aus der Ex-DDR sowie drei Schäferhunde beschützen den idyllischen Ort. Heute gegen 11 Uhr wird hier ein Herr von kräftiger Statur auftauchen, die Taschen voll seltsamer Flöten, um den Hals einen kaputten Autoschlauch, und lauthals solche frohen Botschaften verkünden wie: „Huste, Olle, huste! Hasse keine Puste? / Fühlsse nich den schlappen Schlauch? / Den blasen we gemeinsam auf / und rollen mit nach Brüssel. / Und spielen Elefantenrüssel.“
Jürgen Schimanek heißt der Bänkelsänger, der in der Region bekannt ist wie ein bunter Hotdog, und das tragikomische Opus, welches er heute aus der Gosse hebt, trägt den Titel „Europagedichte des Tiefgaragenwächters vom Gelsenkirchener Rathaus“. Darin macht sich der namenlose Held so seine Otto-Normal-Gedanken über Europa im allgemeinen und die Tiefgarage im besonderen, wo er übrigens alles voll im Griff hat und auch im Blick: „Seh ich morgens auffe Abflußrohre schwitzen, / dann weiß ich, dasse oben auffe Kloos sitzen. / Dann brauch ich nur mitte Flossen dranzupacken / und fühl genau, wat se pro Sitzung runterkacken.“
Doch zum vollgültigen Opus, das der zahlende Literaturliebhaber schwarz auf schwarz nach Hause tragen kann, werden die elf heimatverbundenen Knittelgedichte erst durch erwähnten Autoschlauch. Der trägt nämlich eine entsprechende Anzahl Flicken, worauf die Texte fein säuberlich abgedruckt sind – echte Qualitätsarbeit. Daß das Gummiding dennoch hoffnungslos defekt ist und die Luft nicht halten kann, rundet es zwar nicht äußerlich, aber ästhetisch-politisch um so überzeugender ab: Jetzt wächst halt nicht zusammen, was Flickwerk bleiben muß. Das maßgeschneiderte Design zu Schimaneks profanen Versen entsteht in einem Ex-Schweinestall bei Düsseldorf. Dort hat der Grafiker und Bildhauer Peter Hölscher sein Atelier. Zu den bezauberndsten Kreationen von „Fegefeuer Press“, wie sich die gemeinsame Literaturobjektschmiede nennt (Tel.: 0209-498 469), gehörten in letzter Zeit: eine Alu- Butterbrotdose mit kumpeligen Liebesgedichten auf zerknittertem Einwickelpapier nebst echten Krümeln; ein Einweg-Stiefelüberzieher für verseuchtes Gelände, darauf allerlei fröhliche Kinderverse rund um die bunte Welt der Schwermetalle („Nitrit – Nitrat – Nitrester, / wir hammne dicke Schwester“); ein herzklapperndes Chefarztgedicht auf benutztem Original-Urinbeutel; eine Auto- Bremsbacke mit spezieller Huldigung an die Gelsenkirchener SPD- Stadträtin Kestermann-Kuschke, die sich durch exzessive Taxirechnungen einen Namen gemacht hat – und das Objekt im Rahmen einer unverhofften Feierstunde entgegennehmen durfte.
„Warum schreiben Sie so platt?“ giftete eine Bibliothekarin Schimanek an, „wissen Sie eigentlich nicht, welchen Eindruck Ihre Gedichte im hiesigen Rathaus hinterlassen? Und sind Sie sich darüber im klaren, daß ich im Auswahlgremium für den Ruhrgebiets-Literaturpreis sitze?“ Au Backe, das war noch vor den Tiefgaragengedichten. Jetzt geht die Salonfähigkeit endgültig flöten. Und zwar, wie gesagt, heute vormittag am Europaplatz. Olaf Cless
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen