Den Namen der Oma sagen traut sich jeder

■ Zwanzig Jahre „Hallo Ü-Wagen“ haben nicht nur die Angst der Leute vor dem Mikrophon abgebaut, sondern auch Carmen Thomas eine Menge Erkenntnisse beschert

taz: Als Sie angefangen haben mit dem Ü-Wagen, war Mitmachradio in Deutschland unbekannt. Wie sind Sie auf die Idee gekommen?

Carmen Thomas: Ich hatte durch die 68er-Zeit immer noch den Wunsch, etwas in Bewegung zu setzen. Dazu gehörte auch die neue Bürgermündigkeit, von der man dauernd redete. Ich fand das damals sehr nett von mir, daß ich auf die Straße ging und wirklich mit den Leuten redete. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich gemerkt habe, wie nett die Leute zu mir waren, daß sie sich zu mir stellten und mit mir redeten.

Am Anfang stand eine Wunschmusiksendung.

Ja, das war etwas ziemlich Schreckliches. Da konnten die Menschen ihre Omma* grüßen und mußten als Erkennungszeichen eine Bratpfanne oder so was mitbringen.

Wie war das, als Sie plötzlich anfingen, ernsthaft mit den Menschen zu reden?

Ganz schwierig, weil die ganz große Angst davor hatten. Ich habe ziemlich lange gebraucht, bis ich verstanden habe, warum die so gerne grüßen. Ich hatte mich vorher immer gewundert, warum die nicht 20 Pfennig nehmen und die Omma einfach anrufen. Dann hab' ich verstanden: Den eigenen Namen und den Namen der Omma sagen, das ist das, was sich jeder Mensch traut.

Hat sich das Publikum im Laufe der zwanzig Jahre verändert?

Ja, ganz erheblich. Es ist vor allem ruhiger geworden. Wir hatten ja am Anfang manchmal demonstrationsartige Zustände vor dem Ü-Wagen. Als wir zum Beispiel eine Sendung über Kunst am Bau in Bochum gemacht haben, wo es um eine abstrakte Plastik ging, die die Volksseele zum Kochen brachte, da hab' ich fast die Oberen der Stadt körperlich schützen müssen, weil da 4.000 Leute schäumend vor dem Ü-Wagen standen.

Was sind so Ihre liebsten Themen?

Ich hab' im Laufe der Zeit festgestellt, daß die Leute ein ganz anderes Verständnis von Aktualität haben als wir Journalistinnen und Journalisten. Für sie ist aktuell nicht heute, sondern das, was unter den Nägeln brennt. Ich habe auch gelernt, daß vermeintlich unpolitische Themen oft sehr politisch sind. Ich kann an der Hausapotheke viel besser erklären, wie die Pharmaindustrie arbeitet, als wenn ich einen Grundsatzbeitrag über die Pharmaindustrie mache.

Welche Themen haben Ihnen besonders am Herzen gelegen?

Zum Beispiel die Sendung über eine Geburt, die wir live aus einem Kreißsaal gemacht haben. Das war ein kleiner Mosaikstein für eine gesellschaftliche Veränderung. Als ich die Sendung 78 machte, war es völlig unüblich, daß die Männer bei der Geburt dabei waren. Da hat sicher diese Sendung ein Stück Vorbildfunktion gehabt, weil sie in vielen Geburtsvorbereitungskursen gelaufen ist und die Männer dann auch ermutigt hat, mitzugehen.

Sie haben ziemlich früh Themen aufgegriffen, die einen feministischen Impuls hatten.

Das war von Anfang an ein Anliegen von mir. Vorher habe ich als Sportstudio-Moderatorin gearbeitet. Da bin ich mit Macht auf meine Frauenrolle gestoßen worden.

Sie haben eine Art von Radio etabliert, die heute als rundfunkpolitischer Anachronismus gilt: das Radio nicht als Begleit-, sondern als Zuhör- und Einschaltmedium.

Ich denke, daß das eine zukunftsträchtige Form ist und kein Anachronismus. Die werden alle von ihrem Formatradio und ihren Worthäppchen wieder runterkommen. Das ist nur ein Durchgangsstadium. Der Erfolg des Ü-Wagens ist ja meßbar, nicht nur an den Einschaltquoten. Daß die Leute sich da bei Regen und Kälte zu uns stellen und da drei Stunden ausharren, das liegt ja nicht daran, daß die Leute kein Zuhause haben.

Können Sie sich noch an eine Begegnung erinnern, die Sie besonders bewegt hat?

Das sind manchmal so ganz einfache Sachen. Eine Frau aus Gelsenkirchen zum Beispiel, die da morgens um neun im Winter kam, mich streng anguckte, eine Thermoskanne Kaffee aus der Tasche holte und sagte, „die Kanne hol' ich um zwölf wieder ab, is wat kalt heute“, und wieder vom Wagen stieg. So was ist herzerwärmend.

Wird Ihnen der Ü-Wagen nicht fehlen?

Doch sicher. Ich gehe natürlich mit einem weinenden Auge. Aber ich wollte immer, daß jemand anderes das mal weiterführt. Und ich denke, mein Kind ist jetzt mit 20 Jahren alt genug und kann heiraten. Interview: Sonja Schock

* Nordrhein-westfälische Schreibweise